Über Gott und die Welt
Metall und auf Glas. Dann treten wir in die Sonne hinaus, an den Strand des Pazifi schen Ozeans, die Natur hat uns wieder, Coca Cola lädt ein, die Autobahn wartet mit ihren fünf Spuren, im Radio trällert Olivia Newton John Please mister, please … Doch wir sind vom Schauer der Hehren Kunst gestreift worden, wir haben die erregendste spirituelle Erfahrung unseres Lebens gemacht, wir haben das kunstvollste Kunstwerk der Welt gesehen! Es befi ndet sich fern von hier, drüben in Mailand, was so was Ähnliches ist wie Florenz, alles Renaissance, vielleicht werden wir niemals hinfahren, aber wozu auch, die Stimme hat uns verkündet, daß jenes ferne Fresko schon ganz verblichen ist, kaum noch zu sehen, gewiß nicht imstande, uns die erhabene Emotion zu vermitteln, die wir von diesem dreidimensionalen Wachsbild empfangen haben, das eben realer ist und mehr bietet.
Doch was erhabene Emotionen betrifft, ist keine so stark wie jene, die uns der »Palace of Living Arts« in Buena Park, Los Angeles bietet. Er liegt gleich neben dem Movieland Wax Museum und hat die Form einer chinesischen Pagode. Vor dem Movieland Wax Museum steht ein goldener Rolls Royce, vor dem Palace of Living Arts steht der David von Michelangelo, in Marmor.
Er höchstpersönlich. Oder fast. Nämlich seine authentische, echte Kopie. Was uns eigentlich nicht überraschen sollte, denn auf unserer Reise hatten wir das Glück, mindestens zehn solche Davids zu sehen, nebst einigen Exemplaren der Pietà und einem kompletten Set der Medici-Kapelle. Aber der Palace of Living Arts tut mehr, denn er begnügt sich nicht damit (außer bei ein paar Skulpturen), uns einen guten und halbwegs getreuen Abguß zu präsentieren. Der Palace of Living Arts reproduziert in Wachs, dreidimensional, in natürlicher Größe und selbstverständlich in Farbe, die großen Meisterwerke der Malerei aller Zeiten. Hier sehen wir Leonardo, wie er eine vor ihm sitzende Dame porträtiert: Es ist die Gioconda, die Mona Lisa höchstpersönlich, komplett mit Stuhl und Beinen und Hinterpartie. Leonardo hat neben sich eine Staffelei, und auf dieser Staffelei steht eine zweidimensio-nale Kopie der Mona Lisa, was will man mehr? Hier sehen wir auch den Aristoteles von Rembrandt, wie er die Büste Homers betrachtet, dort den Kardinal de Guevara von El Greco, dort den Kardinal Richelieu von Philippe de Champaigne, die Salome von Guido Reni, die Große Odaliske von Ingres und die süße Pinkie von Thomas Lawrence (die nicht nur dreidimensional dasteht, ihr seidenes Kleid bewegt sich auch leise im Lufthauch eines verborgenen Ventilators, denn sie steht, wie man weiß, vor dem Hintergrund einer Landschaft, über der sich Gewitterwolken zusammenziehen).
Neben jeder Wachsfi gur hängt das »originale« Gemälde. Auch hier ist es keine photographische Reproduktion, sondern eine Kopie in Öl, sehr primitiv, in Madonnenmalertechnik, und wieder erscheint die Kopie überzeugender als das Modell, und der Besucher überzeugt sich »mit eigenen Augen«, daß der Palace of Living Arts die National Gallery oder den Prado nicht bloß ersetzt, sondern verbessert.
Die Philosophie des Palace heißt nicht »wir geben euch die Reproduktion, damit ihr Lust auf das Original bekommt«, sondern
»wir geben euch die Reproduktion, damit ihr kein Verlangen mehr nach dem Original habt«. Damit aber nach der Reproduktion verlangt wird, muß das Original so idolisiert werden, daß es unerreichbar erscheint. Daher das Kitschige der vergötternden Beischriften und der raunenden Stimmen, die uns immerzu an die Größe der Kunst vergangener Zeiten erinnern: Im letzten Saal präsentiert sich eine vatikanische Pietà von Michelangelo, diesmal eine gute Marmorkopie, hergestellt (wie immer genau vermerkt wird) von einem fl orentinischen Spezialisten, und als Dreingabe tut uns die Stimme kund, daß der Marmorfußboden unter dem Werk aus Steinen vom Heiligen Grab in Jerusalem ist (mithin wird hier mehr geboten als in Sankt Peter, und das Ganze ist echter).
Da wir fünf Dollar bezahlt und somit das Recht haben, nicht getäuscht zu werden, hängt an der Wand eine Fotokopie der Urkunde, in der die Verwaltung der Kirche des Heiligen Grabes bestätigt, daß sie dem Palace erlaubt hat, zwanzig Steinplatten zu entnehmen (woher wird nicht ganz klar). In der Erregung des Augenblicks, während scharfe Lichtstrahlen durch das Dunkel schneiden, um die erwähnten Details zu beleuchten, merkt der Besucher nicht gleich, daß der Boden aus
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