Über Gott und die Welt
Natur.
In diesem Sinne ist, wie ich meine, das typischste Phänomen dieses Universums nicht das berühmtere »Fantasyland«, ein unterhaltsames Spiel mit phantastischen Reisen, die den Besucher in die Welt von Schneewittchen und Peter Pan entführen (eine Wundermaschine, deren Reiz und Legitimität als Spiel verleugnen zu wollen töricht wäre), sondern das Piratenspektakel und das Spukschloß. Das Piratenspektakel dauert bloß eine Viertelstunde (doch man verliert das Zeitgefühl, es könnten genausogut zehn oder dreißig Minuten sein), man fährt auf fl achen Booten dicht über dem Wasserspiegel durch unterirdische Höhlen, als erstes sieht man verlassene Schatztruhen, das Skelett eines Kapitäns in einem Prunkbett mit Brokathimmel, mottenzerfressen und mit Spinnweben überzogen, sowie die Leichen Gehenkter, zerrissen von Raben, denen der Kapitän mit erhobener Knochenhand droht. Dann überquert man eine Art Meeresarm, fährt mitten durchs Kreuzfeuer der Geschütze einer Galeone und eines Forts und hört den Korsarenhäuptling wüste Hohnworte zu den
Belagerten schreien. Anschließend kommt man auf einem Fluß an einer eroberten Stadt vorbei, die gerade geplündert wird, man sieht Vergewaltigungen der Frauen, Razzien nach Juwelen und Folterungen des Bürgermeisters; die Stadt brennt wie Zunder, betrunkene Piraten liegen auf Fässern und grölen obszöne Lieder, einige schon total bezechte schießen auf die Besucher; die Szene entartet, alles versinkt in Flammen, die letzten fernen Gesänge verklingen, man fährt hinaus in die Sonne. Alles war lebensgroß und lebendig gewesen, die Höhle wölbte sich hoch wie der Himmel, die Grenzen dieser schaurigen Unterwelt schienen die Grenzen des Universums zu sein, und es war kein Ende zu sehen.
Die Piraten bewegten sich, tanzten, schliefen, rollten die Augen, grinsten und tranken echt. Man reibt sich die Augen und macht sich klar, daß es Automaten waren, aber man ist noch immer verblüfft über ihre Wirklichkeitsnähe. Und effektiv war die »audioanimatronische« Technik eine der stolzesten Leistungen von Walt Disney, dem es mit ihrer Hilfe schließlich gelang, seinen Traum zu verwirklichen und eine Phantasiewelt wirklicher als in Wirklichkeit nachzubauen, die Trennwand zur dritten Dimension zu durchstoßen und nicht mehr bloß Filme zu machen, was ja nur Vortäuschung von Realität ist, sondern totales Theater, und nicht mehr bloß mit vermenschlichten Tieren, sondern mit »richtigen«
Menschen. Tatsächlich sind Disneys Automaten Meisterwerke der Elektronik, jeder ist einzeln entwickelt worden, für jeden hat man zunächst die Mimik eines echten Schauspielers analysiert, dann hat man kleine Modelle gebaut, dann Skelette von absoluter Präzision, regelrechte Computer in Menschengestalt, dann hat man sie schließlich mit »Fleisch« und »Haut« überzogen, realisiert von einem Team unglaublich perfekter Imitationsspezialisten.
Jeder Automat befolgt ein Programm, das ihn befähigt, die Lippen- und Augenbewegungen aufs genaueste mit den Worten und Lauten der Tonspur zu synchronisieren, jeder spielt unaufhörlich den ganzen Tag lang seine vorgeschriebene kleine Rolle (einen Satz, ein paar Gesten), und der Besucher, frappiert von der raschen Szenenfolge, gezwungen, mehrere Szenen gleichzeitig zu betrachten, rechts eine, links eine, vorn, hat nie genug Zeit zurückzublicken und zu bemerken, daß der eben gesehene Automat bereits seinen ewigen Part wiederholt.
Die audioanimatronische Technik wird auch in anderen
Abteilungen Disneylands angewandt, sie belebt sogar eine Versammlung von Präsidenten der Vereinigten Staaten, aber so überzeugend wie in der Piratenhöhle zeigt sie sich, scheint mir, nirgends in ihrer ganzen erstaunlichen Effi zienz. Lebendige Menschen könnten die Sache nicht besser machen, doch entscheidend ist gerade, daß es keine lebendigen Menschen sind und daß man es weiß. Die Lust an der Imitation – das wußten bereits die alten Griechen – ist eine der am tiefsten im menschlichen Geist verwurzelten Regungen, aber hier genießt man nicht nur die perfekte Imitation, sondern auch die Überzeugung, daß die Imitation ihren höchsten Gipfel erreicht hat und daß ihr die Realität von nun an stets unterlegen sein wird.
Nach Kriterien ähnlicher Art vollzieht sich die Reise durch die Gespensterwelt des »Haunted Mansion«. Es präsentiert sich von außen im Stil eines friedlichen Landhauses, halbwegs zwischen Edgar Allan Poe und den Cartoons von Chas
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