Über Gott und die Welt
nicht zum Anlaß für eine Gewissensprüfung des europäischen Kunstgeschmacks nehmen. Sind wir sicher, daß die Pilgerfahrt des europäischen Touristen zur Pietà in Sankt Peter weniger fetischismusanfällig ist als die Pilgerfahrt des amerikanischen Touristen zur Pietà in Forest Lawn (die er aus größerer Nähe betrachten und sogar an-fassen kann)? Im Grunde perfektionieren all diese Museen nur die Idee der »Vervielfältigung«. Das Goethe-Institut hat kürzlich in Köln das »Bügeleisen mit Stacheln« und das »Metronom mit Auge« von Man Ray nachgebaut, desgleichen das »Fahrrad-Rad auf Küchenhocker« von Marcel Duchamp, das nur noch als Photographie existierte. Und in der Tat, sobald man einmal den fetischistischen Wunsch nach dem Original überwunden hat, sind diese Kopien perfekt. Wer tritt, so besehen, die Rechte der Kunst mit Füßen? Ist es nicht eher der Steinschneider, der seine Tafel zerbricht, damit die Anzahl der numerierten Abzüge niedrig bleibt?
Hier wird nicht versucht, die Kult- und Weihestätten des Falschen freizusprechen, hier geht es um die Mittäterschaft der europäischen Kult- und Weihestätten des Echten.
Die Stadt der Automaten
Wenn sich in Europa jemand amüsieren will, geht er dazu in ein »Haus«, das Vergnügungen bietet (sei es ein Lichtspielhaus oder ein Schauspielhaus oder ein Spielkasino); manchmal wird vorübergehend ein »Park« aufgebaut, der eine »Stadt« evozieren kann, aber nur im metaphorischen Sinne (wie eine »Zeltstadt« auf einer Festwiese). In Amerika gibt es hingegen, wie jeder weiß, regelrechte Vergnügungs- Städte : Las Vegas zum Beispiel, eine ganz und gar künstliche Stadt, in der sich alles um Spiel und Spektakel dreht und die von dem Architekten Robert Venturi als völlig neues Stadtphänomen untersucht worden ist, als »Message-Town«, die ganz aus Zeichen besteht, nicht eine Stadt wie die anderen, die kommunizieren, um funktionieren zu können, sondern eine, die funktioniert, um zu kommunizieren. Aber Las Vegas ist noch eine »richtige« Stadt, und wie Giovanni Brino kürzlich in einem Aufsatz gezeigt hat, verwandelt sie sich aus einer ursprünglichen Spielerstadt immer mehr in eine Wohn-, Geschäfts-, Industrie-und Kongreßstadt. Thema unserer Reise ist jedoch das Absolut Falsche, und daher interessieren uns hier nur die absolut falschen Städte. Disneyland (Kalifornien) und Disney World (Florida) sind gewiß die Paradebeispiele, doch wenn sie allein auf weiter Flur stünden, wären sie lediglich Randphänomene. Tatsache ist aber, daß die Vereinigten Staaten voll sind von Städten, die eine Stadt imitieren, so wie die Wachsmuseen die Malerei imitieren und die venezianischen Paläste oder pompejanischen Villen die Architektur. Vor allem gibt es die »Ghost Towns«, die Städte des Alten Westens von vor hundert Jahren. Manche davon sind halbwegs authentisch, das heißt der Rekonstruktion oder Konservierung liegt eine »archäologische« Stadtanlage zugrunde.
Interessanter sind aber diejenigen, die aus dem Nichts entstanden sind, durch bloßen Willen zur Imitation. Sie sind das real thing.
Man hat nur die Qual der Wahl: Es gibt Stadtlandschaften, wie am Stone Mountain bei Atlanta, mit Reisen in alten Eisenbahnzügen aus der Gründerzeit, Indianerüberfällen und rettend eingreifenden Sheriffs, vor dem Hintergrund eines falschen Mount Rushmore, aus dessen Felswänden die Gesichter der großen US-Präsidenten blicken; es gibt das Six Guns Territory in Silver Springs, mit Zug und Sheriffs und Schießerei in den Straßen und French Cancan im Saloon; es gibt eine Reihe von Ranchos und mexikanischen Missionen in Arizona, Tombstone mit dem O.K. Corral, Old Tucson, Legend City bei Phoenix, die Old South Bar-b-Q Ranch in Clewiston/Florida, und so weiter.
Wenn wir den Western-Mythos verlassen wollen, können wir auch noch andere Stadtformen haben, etwa den Magic Mountain in Valencia/Kalifornien, das Santa Claus Village, polynesische Gärten, Pirateninseln, Astroworlds wie in Kirby/Texas, und schließlich die »wilden« Gebiete der diversen Marinelands, ökologische Städte, mit denen wir uns im nächsten Kapitel befassen werden.
Es gibt auch Nachbildungen historischer Schiffe. Zwischen Tampa und Saint Petersburg in Florida kann man zum Beispiel an Bord der »Bounty« gehen, die auf der Reede vor einem tahitia-nischen Dorf liegt, getreulich rekonstruiert nach Zeichnungen aus den Beständen der Londoner Royal Society, aber mit Seitenblicken auf den
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