Über Gott und die Welt
entsagen.
Denn als Allegorie der Konsumgesellschaft und Ort der absoluten Ikonizität ist Disneyland schließlich auch Ort der totalen Passivität. Seine Besucher müssen bereit sein, dort wie seine Automaten zu leben; der Zugang zu jeder einzelnen Attraktion ist streng geregelt durch Absperrgitter, Metallrohrgeländer und labyrinthisch verschlungene Gänge, die jeden Ansatz zu eigener Initiative im Keim ersticken. Die Menge der Besucher erzwingt überall den Rhythmus des Schlangestehens, die Funktionäre des Traums, korrekt gekleidet in ihre jeweils dem besonderen Ort entsprechenden Uniformen, führen den Besucher nicht bloß an die Schwelle der im voraus gewählten Abteilung, sonder regulieren auch weiterhin jeden einzelnen Schritt (»Jetzt warten Sie bitte hier, jetzt steigen Sie bitte ein, jetzt nehmen Sie bitte Platz, jetzt bleiben Sie bitte noch einen Augenblick sitzen« – immer höfl ich, unpersönlich, unerbittlich, übers Mikrophon). Wenn der Besucher bereit ist, diesen Preis zu entrichten, bekommt er als Gegenleistung nicht nur »das Wahre«, the real thing, sondern die Fülle und Überfülle der rekonstruierten Wahrheit. Auch Disneyland hat – wie das Hearst Castle – keine leeren Flächen, auf denen nichts los ist, es gibt immer etwas zu sehen, die gro-
ßen Leerräume der modernen Architektur und Urbanistik sind ihm unbekannt. Wenn Amerika das ist, was Museen wie das Guggenheim und die neuen Wolkenkratzer Manhattans reprä-
sentieren, dann ist Disneyland lediglich eine skurrile Ausnahme und die amerikanischen Intellektuellen tun recht daran, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wenn Amerika aber das ist, was wir auf unserer Reise gesehen haben, dann ist Disneyland seine Sixtinische Kapelle und die Hyperrealisten der Kunstgalerien sind nur die schüchternen Voyeure eines immensen und dauer-haften Objet trouvé.
Orwellsche Ökologie und fl eischgewordenes Coca
Cola
Spongeorama, Sea World, Scripps Aquarium, Wild Animal
Park, Jungle Gardens, Alligator Farm, Marineland – die Küsten Kaliforniens und Floridas sind reich an Aquarienstädten und künstlichen Dschungeln, in denen man Tiere besichtigen kann –
wildlebende Tiere in Freigehegen, dressierte Delphine, radelnde Papageien, wasserballspielende Robben, die zwischendurch einen Martini samt der Olive trinken und eine Dusche nehmen, Kamele und Elefanten, die auf dem Rücken kleine Besucher unter den Palmen umhertragen. Gegenstand der hyperrealistischen Reproduktion ist nicht nur die Kunst und die Geschichte, sondern auch die Natur.
Vor allem der Zoo. Im Zoo von San Diego ist jedes Gehege die mehr oder minder lebensgroße Rekonstruktion einer originalen Umwelt. Beherrschendes Thema der Anlage ist die Erhaltung aussterbender Arten, und in dieser Hinsicht handelt es sich um eine grandiose Leistung. Der Besucher muß stundenlang wandern, denn sogar Bisons und große Vögel sollen sich stets in Räumen bewegen, die so weit wie irgend möglich nach ihren Maßen angelegt sind. Von allen bestehenden Zooanlagen bezeugt ohne Frage die in San Diego den größten Respekt vor dem Tier.
Fraglich ist nur, ob dieser Respekt das Tier überzeugen soll oder den Menschen. Der Mensch nimmt jedes Opfer in Kauf, sogar den Verzicht auf den Anblick der Tiere, wenn er nur weiß, daß sie in einer garantiert authentischen Umwelt leben. Wie bei dem höchst seltenen australischen Beutelbär oder Koala, Symbol des Zoos, der nur in einem Eukalyptuswald leben kann, doch kaum hat er seinen Wald, versteckt er sich glücklich zwischen den Blättern, indes die Besucher verzweifelt mit Feldstechern nach ihm suchen. Der unsichtbare Beutelbär suggeriert eine Freiheit, die man leicht auf sichtbarere und beengter lebende Großtiere überträgt. Da die Temperatur im Packeis künstlich unter Null gehalten wird, erweckt der Eisbär den gleichen Eindruck, und da die Felsen braun sind und das Planschwasser ziemlich schmutzig aussieht, scheint auch der Grizzly sich wohl zu fühlen. Aber sein Wohlbefi nden läßt sich nur durch Geselligkeit demonstrieren, und so wartet der Grizzly, der auf den Namen Chester hört, daß alle drei Minuten ein Kleinbus voller Touristen vorbeikommt und die Hostess ihm zuruft, er solle die Ladys und Gentlemen freundlich begrüßen. Dann richtet Chester sich auf, hebt ein Pfötchen (das eine furchterregende Pranke ist) und macht Winkewinke. Die Hostess wirft ihm einen Zwieback hin, die Gruppe fährt weiter, und Chester wartet auf den nächsten Kleinbus.
Soviel
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