Über Gott und die Welt
berühmten Hollywoodfi lm mit Charles Laughton und Clark Gable. Viele der nautischen Instrumente sind aus der Epoche, ein paar Matrosen sind Wachsfi guren, die Schuhe eines Offi ziers sind dieselben, die der Schauspieler trug, als er ihn spielte, die historischen Angaben auf den diversen Erklärungstafeln sind glaubhaft, die Stimmen, die durch die Räume klingen, kommen vom Soundtrack des Films. Doch
beschränken wir uns auf den Western-Mythos und wählen als exemplarische Ghost Town die Knott’s Berry Farm in Buena Park, Los Angeles.
Dem Anschein nach wird hier mit offenen Karten gespielt, die umgebende Stadtlandschaft und der eiserne Gitterzaun um die Anlage (und natürlich die Eintrittskarte) weisen klar darauf hin, daß man keine richtige Stadt betritt, sondern eine Spielzeugstadt.
Doch sobald man beginnt, durch die ersten Straßen zu gehen, nimmt die Illusion überhand. Vor allem frappiert der Realismus des Ganzen, die staubigen Ställe, die schäbigen Läden, das Sheriff ’s Offi ce mit Telegraphenstation, das Gefängnis und der Saloon sind detailgetreu rekonstruiert und natürlich im Maßstab eins zu eins, die alten Planwagen sind mit Staub bedeckt, die chinesische Wäscherei ist trübe erleuchtet, alle Lokale sind mehr oder minder betretbar, die Läden sind offen, denn Knott’s Berry Farm vereinigt – genau wie Disneyland – die Realität des Handels mit dem Spiel der Fiktion, und wenn der Drugstore falsche Gründerzeit ist und die Verkäuferin kostümiert wie eine Heldin John Fords, so sind die kandierten Früchte, die Erdnüsse und die pseudoindianischen Handarbeiten dafür um so echter, so echt wie die Dollars, die dafür verlangt werden; echt sind auch die Getränke, für die auf vergilbten alten Plakaten geworben wird, und der Kunde sieht sich ganz eingetaucht in Phantasie dank seiner eigenen Echtheit als Konsument – mit anderen Worten, er ist in der Lage des Cowboys oder Goldsuchers, der aus den Bergen in die Stadt kommt und sich alles abnehmen läßt, was er draußen angespart hat.
Zudem sind die Illusionsebenen vielfältig, was die halluzinieren-de Wirkung noch steigert: Der Chinese in der Wäscherei und der Gefangene im Gefängnis sind Wachsfi guren, die in realistischer Pose ein ebenso realistisch gebautes Ambiente bewohnen, in das man faktisch nicht eintreten kann. Aber man merkt nicht, daß der betreffende Raum nur ein Schaukasten ist, denn er wirkt so, als könnte man jederzeit durch die Tür hineinspazieren oder durchs Fenster eindringen. Zumal der angrenzende Raum – beispielsweise ein Drugstore, der auch als Büro des Friedensrichters fungiert – zwar wie ein Schaukasten wirkt, aber seinerseits nun real betretbar ist, und der Friedensrichter in seinem schwarzen Gehrock und mit seinen Colts am Gürtel ist ein realer Händler, der dort seine Waren verkauft. Hinzu kommt, daß in den Straßen Komparsen umhergehen, die im rechten Moment eine wilde Schießerei inszenieren, und da der amerikanische Durchschnittstourist heutzutage Blue Jeans trägt, die denen der Cowboys weitgehend gleichen, vermischt sich ein großer Teil der Besucher mit den Komparsen und erhöht damit noch das Theaterhafte des Ganzen. In der Dorfschule etwa, die mit geradezu hyperrealistischer Treue rekonstruiert ist, steht am Pult eine Lehrerin mit Häubchen und weitem kariertem Rock, doch auf den Bänken vor ihr sitzen Kinder, die in Wirklichkeit kleine Besucher sind, und ich habe gehört, wie ein Tourist seine Frau leise fragte, ob die Kinder echt oder falsch seien (und man hörte, daß er innerlich schon bereit war, sie wahlweise für Komparsen oder für Puppen zu halten, oder für elektronisch gesteuerte Automaten wie jene, die wir in Disneyland sehen werden).
Dem Anschein nach gehören die Ghost Towns in eine andere Kategorie als die Wachsmuseen oder die Kunstmuseen voller Kopien. In den Wachsmuseen erwartet niemand, daß der Napoleon in seiner Nische für echt gehalten wird, aber das Trugbild entsteht durch die Nivellierung der verschiedenen Geschichtsepochen und durch die fehlende Unterscheidung zwischen historischer Realität und Phantasie; im Falle der Kunstmuseen à la Palace of Living Arts ist trügerisch auf kultureller Ebene, wenn nicht auf psychologischer, die Vermengung von Kopie und Original sowie die Fetischisierung der Kunst als Abfolge von berühmten Sujets.
In den Ghost Towns hingegen, wo das Theatralische explizit ist, liegt das Spukhafte in der Verwandlung des Besuchers zu einem Mitwirkenden an
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