Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Spaemann
Vom Netzwerk:
wird es sie weiter geben, solange es Menschen gibt, die nicht nur manchmal gründlich nachdenken, sondern auch in eine Beziehung treten wollen zu dem, was schon vor ihnen gedacht wurde. Wittgenstein schreibt: »Der Gruß unter Philosophen sollte sein: ›Lass dir Zeit.‹«
    Nach einer Friedens- und Wohlstandszeit in Deutschland ohne Beispiel: Wurde das Philosophieren dadurch beflügelt?
    Nein. Die Aufdringlichkeit der Anforderungen unserer Zivilisation – Aufdringlichkeit, wo es um Gelderwerb oder um Geldausgeben geht – ist dem zweckfreien Nachdenken über das, »was in Wahrheit ist«, wie Hegel sagt, nicht förderlich. Sokrates und Kant sind nie in Urlaub gefahren.
    Wie sehen Sie die Chancen der westlichen Zivilisation, »das Menschliche im Umgang des Menschen mit sich selbst und seinesgleichen«, wie Sie es in Ihrem Aufsatz »Wahrheit und Freiheit« (2009) formuliert haben, zu verteidigen?
    Wo es um die »letzten Fragen« geht und um Entscheidungen über Sinn oder Unsinn unseres Daseins, also um Alles oder Nichts, wird man dem Ernst der Situation nicht gerecht, wenn man nach den Chancen für das richtige Leben fragt. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, schreibt Adorno. Das kann nicht wahr sein. Der Satz gehört selbst zum falschen Leben.
    Fühlen Sie sich zu Hause in der Welt, wie Sie sie wahrnehmen?
    Nein. Zu Hause wäre zu viel gesagt. Aber der Aufenthalt in der Fremde muss ja auch nicht schlecht sein. Er wäre sogar wundervoll, wenn mehr Menschen in die Lage versetzt würden, ihn wundervoll zu finden. Und wenn man nicht mit dem Bewusstsein leben würde, dass man selbst vielleicht mehr dazu beitragen könnte. Philosophie ist schließlich ein Luxus.
    Haben Sie je an Ihrer vor über 60 Jahren getroffenen Entscheidung gezweifelt, sich der Philosophie zu zuwenden?
    Nein. Es hat sich so ergeben, und ich bin nach wie vor einverstanden.
    Was hat Ihr Leben durch das Philosophieren gewonnen?
    Klarheit – womöglich der Antworten, jedenfalls aber der Fragen.

KAPITEL 10
DIE ZWEI INTERESSEN DER VERNUNFT
    Die gegenwärtigen Debatten um die Menschenrechte, um die genetische Technologie, um den Schutz menschlicher Embryonen oder auch um Fragen mit Bezug auf Anfang und Ende des menschlichen Lebens sind durch eine tiefe Ambivalenz gekennzeichnet. Man muss in dieser Ambivalenz den Ausdruck eines fundamentalen Dualismus in der Mentalität unserer Epoche sehen, eines Dualismus zwischen dem, was ich »Naturalismus« einerseits, »Spiritualismus« andererseits nennen möchte.
    Um einen Dualismus, eine Polarität zu verstehen, darf man nicht in ihn verstrickt sein, man muss über einen Gesichtspunkt verfügen, der sich außerhalb oder oberhalb dieses Dualismus befindet. Andernfalls verwickelt sich der Dualismus in eine Dialektik, in welcher jede Position unbewusst und unfreiwillig in die entgegengesetzte Position umschlägt.
    Philosophie ist der Versuch, diese Dialektik als solche zu verstehen. So ist es zum Beispiel die Intention der Hegel’schen Philosophie. Hegels Philosophie wollte keine dialektische Philosophie sein, sondern eine Philosophie, die die Dialektik entdeckt und begreift, in welche sich jeder endliche und begrenzte Gesichtspunkt verstrickt. Sie will die Dialektik verstehen, um sie zu überwinden. Ich nenne im Folgenden einige Beispiele für das, was ich unter der Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus verstehe. 1. Einerseits haben wir esmit einer naturalistischen Theorie der Erkenntnis zu tun, die sich heute auf die Theorie der Evolution und die Neurobiologie stützt. Diese Theorie interpretiert Erkenntnis als eine Form der Anpassung eines Organismus an seine Umwelt, und dies nicht nur in dem Sinne, dass unsere Erkenntnisse das Überleben begünstigen und so einen Vorteil geben im Spiel der Selektion, sondern im radikaleren Sinne, nämlich so, dass die Zustände des menschlichen Organismus, der sich selbst versteht als Begreifen dessen, was ist, in Wirklichkeit nur eine Anpassungsleistung ist. Selbsttranszendenz ist eine Illusion. »We never advance one step beyond ourselves«, das war bereits die Formel von David Hume.
    Diese Theorie selbst beansprucht allerdings für sich Wahrheit im traditionellen Sinn des Wortes. Sie beansprucht zu sagen, was ist, entsprechend dem Diktum von Étienne Gilson: »Jeder ist Realist mit Bezug auf irgendetwas.« Die Neurowissenschaftler sind Realisten mit Bezug auf das Gehirn. Wo aber ist das Subjekt der Erkenntnis des Gehirns? Das neue transzendentale Subjekt

Weitere Kostenlose Bücher