Ueber Gott und die Welt
– so meine These in diesem Text – sind beide nihilistisch.
Die extreme Linke will Freiheit verwirklichen, ohne auf die Erhaltungsbedingungen Rücksicht zu nehmen. Die extreme Rechte will die Erhaltungsbedingungen der Freiheit derart perfektionieren, dass von der Freiheit nichts mehr übrigbleibt.
Nehmen wir das Beispiel Sicherheit. Wenn der Staat alles dem Sicherheitskriterium unterordnen, also absolute Sicherheit schaffen will, dann zerstört er das bürgerliche, freie Leben. Wo die Gesellschaft glaubt, die Erfordernisse der Sicherheit zugunsten der Freiheit ignorieren zu können, da opfert sie das, worum es ihr doch geht.
Wie kritisch war Ihre Einstellung zu de Bonald?
Man merkt meiner Dissertation an, dass meine Kritik an de Bonald meine Sympathie nicht verdrängen konnte. Er war kein moderner Intellektueller wie Joseph de Maistre, der mit rein funktionalistischen Argumenten Monarchie und Papsttum, also die Tradition verteidigt.
Der Vicomte de Bonald ist ein Mann der
intentio recta
, ein Landedelmann, der unter normalen Umständen seine Güter bewirtschaftet hätte. Damit hätte es in seinem Fall sein Bewenden gehabt. Doch dann kommt die Revolution, und er wird in freier Wahl zum Bürgermeister seines Heimatortes gewählt. Er gibt sein Amt auf als Protest gegen die Einführung eines obligatorischen Eides aller Priester auf die neue Verfassung.
Und nun erst beginnt er, seine Haltung theoretisch zu begründen: mit einer Theorie, die später auch für atheistische Religionsverteidiger interessant wurde. De Bonald war kein Romantiker. Die sich auf ihn berufende Rechte in Frankreich ist im Unterschied zur deutschen rationalistisch. Die Französische Revolution ist in ihren Augen ein Triumph des Irrationalismus.
In Ihrem De Bonald-Buch spielt gegen Ende Charles Péguy eine wichtige Rolle. Es geht um das Thema »De Bonald und die Folgen« und die Rechte und die Linke – die
membra disiecta
der Aufklärung – im Jahrhundert nach der Französischen Revolution. Was hat Ihr Interesse an ihm geweckt?
Im Zusammenhang der Dreyfus-Affäre greift Charles Péguy die Verteidiger der Verurteilung des jüdischen Artillerie-Hauptmanns an und wirft ihnen vor, Verräter derjenigen Werte zu sein, die sie vorgeben zu verteidigen.
Frankreich ist damals seit Jahrzehnten gespalten zwischen einem kämpferischen Laizismus und einer Front von Apologeten der Kirche, des Militärs und des »Ancien Régime«. Die Letzteren bestehen darauf, dass Dreyfus, ein Jude, schuldig ist und lebenslänglich wegen Spionage für das Deutsche Reich gefangen gehalten wird.
Péguy steht in dieser Debatte für etwas, worum es mir eigentlich immer ging: Er verteidigt die Unmittelbarkeit, die
intentio recta
. Die Frage nach der Schuld Dreyfus’ darf keine Sache der Parteirichtung oder der Weltanschauung sein. Sie ist allein das Problem eines juristisch einwandfreien Prozesses. Man dürfe nicht behaupten, Dreyfus sei schuldig, nur weil man für die Kirche und das Militär eintrete. Ebenso wenig sollen die Verteidiger von Dreyfus, im Gefolge von Emile Zola und seiner Schrift »J’accuse«, Dreyfus im Kampf für die Vernichtung der alten Mächte instrumentalisieren. »Verité d’abord« – das allein dürfe die Parole derer sein, die die Ehre des alten Frankreich verteidigen.
Charles Péguy, 1873 geboren, wird katholisch erzogen, tritt aber 1895 in die Sozialistische Partei ein, 1899 wieder aus, und wendet sich 1906, in dem Jahr, als Alfred Dreyfus vollständig rehabilitiert aus der Haft entlassen wird, wieder der katholischen Kirche zu. War er nicht ein Grenzgänger?
Er stand mit seiner Haltung nicht allein: Genau dies war zum Beispiel auch die Haltung Marcel Prousts, der ebenfalls Dreyfus verteidigte, aber betonte, er müsse deshalb nicht zu den Antiklerikalen gehören, die die Kathedralen Frankreichs zweckentfremden wollen. Proust hielt das für ein schlimmeres Sakrileg als die Zerstörung der Kathedralen.
Dem Protagonisten der radikalen Rechten Charles Maurras sowie der Action Française hält Péguy vor, sie seien die eigentlichen Modernisten. Die von ihnen verdammte Französische Revolution sei von Leuten des alten Frankreichs gemacht worden. Diese seien vom alten Geist Frankreichs geprägt, hätten an Wahrheit geglaubt, an die Gerechtigkeit, an das »von Natur Rechte«. Ihr Ethos war der Geist, in dem die Kathedralen gebaut wurden, der gleiche Geist, aus dem heraus sein Großvater ein Stuhlbein gemacht hat. Für Péguy sind die
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