Ueber Gott und die Welt
Systematische Philosophie kann nicht mehr unhistorisch betrieben werden und Philosophiegeschichte nicht mehr unphilosophisch. Systematisches Denken darf nicht ungeschichtlich sein.
Mein Interesse an de Bonald war vor allem philosophisch. Ich war durch ihn auf eine neue Deutung und Kritik der Französischen Revolution sowie auf eine Begrifflichkeit gestoßen, die allgemein mit Rousseau in Verbindung gebracht wird. So machte er sich den von Malebranche stammendenund durch Rousseau adaptierten Begriff der »volonté générale« zu eigen. Die Revolution war für ihn die Auflösung der »volonté générale«, die in Frankreich mindestens seit dem 12. Jahrhundert geherrscht hatte. Schließlich entwickelte de Bonald, wie mir klar wurde, eine Theorie der Gesellschaft, die beanspruchte, als
prima philosophia
anerkannt zu werden. Diese Gesichtspunkte genügten, um Ritter von meinem Vorhaben zu überzeugen.
Letzteres, die Anerkennung der Theorie der Gesellschaft als
prima philosophia
, was hat das zu bedeuten?
Diese seine spezifische Frage hat mir Ritter selbst nicht gestellt. Aber sie bewegte mich. Bei de Bonald wird der Metaphysik ein anderer Stellenwert eingeräumt als in der philosophischen Tradition – also bei Platon und Aristoteles, später bei Thomas von Aquin und noch später bei Leibniz und Malebranche. Überall galt sie als Erste Philosophie.
Für Bonald aber hatte die Metaphysik noch nicht ihre angemessene Form. Sie tritt auf als subjektive Meinung, so wie auch die christliche Religion. De Bonald entwirft eine Theorie: In ihr begreift er Religion als Präsenz Gottes in der Gesellschaft und Metaphysik als geistige Macht, in der sich die Gesellschaft ihrer eigenen Wahrheit vergewissert. Papsttum und die konsekrierte Hostie im Tabernakel sowie die Person des Königs bedeuten, dass die fundamentale Macht in der Gesellschaft nie latent und virtuell, sondern immer real und präsent ist. Die Erste Philosophie muss deshalb eine Art Meta-Metaphysik sein, das heißt also eine Theorie, die die gesellschaftliche Wirklichkeit der Metaphysik als Funktion gesellschaftlicher Selbsterhaltung reflektiert.
Die Theorie der Gesellschaft rückt für de Bonald damit an die Stelle der Metaphysik, wird
prima philosophia
. Der Gedanke, welche Funktion eine Theorie der Gesellschaft erfüllt,erhält den Primat. Diese Umdeutung macht ihn zum Vater der Soziologie.
Es ist ja meistens so, dass neue Wissenschaften zunächst mit dem Anspruch auftreten, die Welt noch einmal von Grund auf zu erklären und Erste Philosophie zu sein. Das tut heute die Neurobiologie. Davor erhob eine Zeit lang die Psychologie diesen Anspruch. Diese Wissenschaften werden nach einer Phase der Besinnung wieder zurückgestuft und zu einer Disziplin unter anderen.
In den Lehrbüchern für Soziologie wird Auguste Comte gern als Begründer dieser Wissenschaft angeführt. Wie war dessen Beziehung zu de Bonald?
Auguste Comte sah sich in der Nachfolge de Bonalds. Dessen Bedeutung war ihm vollkommen bewusst, wie auch Joseph de Maistre, der einmal an de Bonald schrieb: »Ich habe nichts gedacht, was Sie nicht geschrieben, und nichts geschrieben, was Sie nicht gedacht hätten.«
Auguste Comte machte aus den Gedanken de Bonalds eine wissenschaftliche Disziplin, die er schon 1838 »Soziologie« nannte. Was die Wirkung de Bonalds nach seinem Tod 1840 in Frankreich anlangt, so charakterisiert ihn der Ausdruck »maître de la contrerévolution« vielleicht am besten und ordnet ihn und seine Philosophie der Zeit der Französischen Restauration der Jahre 1814 bis 1838 zu.
Noch Charles Maurras, Ende des 19. Jahrhunderts zur Zeit der Dreyfus-Affäre einer der Begründer und der intellektuelle Kopf der rechtsextremen Action Française, meinte sich auf de Bonald berufen zu können und nannte seine Bewegung »Le parti de Bonald«.
Im Jahr 1953 habe ich zwei Aufsätze in der Zeitschrift »Wort und Wahrheit« veröffentlicht, die sich kritisch mit den Adaptionen der Gedanken de Bonalds durch nach ihm lebendeGeister befassen. Einer trug den Titel »Politik zuerst? Das Schicksal der Action Française«, der andere die Überschrift »Der Irrtum der Traditionalisten – Zur Soziologisierung der Gottesidee im 19. Jahrhundert«.
De Bonald gilt als Apologet des »Traditionalismus«. War er nur an der Wiederherstellung der Zustände vor der Revolution interessiert?
Nein. In meiner Dissertation versuche ich, eben herauszuarbeiten, dass Bonalds philosophische Position wesentlich komplexer
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