Ueber Gott und die Welt
auslösen bei demjenigen, der sein Argument für vernünftig hält. Die erste besteht in der Abwehr. Man versucht herauszufinden, woher beim Gegenüber ein eventueller emotionaler Widerstand kommt. Die zweite besteht in der eigenen Verunsicherung, der Annahme der Möglichkeit eines eigenen blinden Flecks, die zu neuem Nachdenken über die Sache führt. Die dritte schließlich ist eine der fundamentalsten und zugleich tückischsten Versuchungen des Denkens, nämlich die Preisgabe des Universalismus, die Akzeptanz bestimmter anderer »Denkarten«. Hegel erklärt es für die Abdankung der Vernunft, wenn sie Denkweisen als »Arten« versteht und »gelten lässt«. Man hat dann auf Wahrheit verzichtet, und die argumentative Kommunikation hat keinen Inhalt mehr.
Nehmen wir den berühmten Satz von Kant aus der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft«: »Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.« Wie verstehen Sie diesen herausfordernden Gedanken?
Kant sieht, dass es bestimmte Grundüberzeugungen des Menschen gibt, ohne die er eigentlich nicht Mensch sein kann – so die Überzeugung, dass es einen Unterschied von Gut und Böse gibt, oder die Überzeugung, dass der Mensch Verantwortung für das hat, was er tut, mit anderen Worten, dass erfrei ist. Und schließlich die Überzeugung, dass es eine letzte Verankerung der kontingenten Wirklichkeit in einer göttlichen Realität gibt. Alle drei Überzeugungen gehören für Kant zum Menschen.
Die moderne Wissenschaft scheint dafür keinen Platz zu haben, sie sieht in der Welt ein durchgängig kausal determiniertes System. Sie kennt nur das allseitig Bedingte. Das Ganze der Bedingungen und Bedingtheiten, das Unbedingte, hat in ihr keinen Platz. Es ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Wohl aber des Glaubens. Das Wissen der Wissenschaft schreitet immer weiter fort. Es wird nie dort angelangen, wo der Glaube immer schon ist, beim An-sich-Seienden.
Teleologische Urteile sind bei Kant irgendwie zwischen Glaubenssätzen und Sätzen der Wissenschaft angesiedelt. Die Annahme einer teleologischen Struktur des Lebendigen ist wissenschaftlich nicht zwingend. Aber sie ist vernünftig. Und sie gibt der Naturwissenschaft ihre Gegenstände vor. Tendenziell löst sie diese Gegenstände auf. Aber diese Tendenz kann zu keinem Ende kommen. Es wird, wie Kant schreibt, den Newton des Grashalms nicht geben. Aber es gibt den Aristoteles des Grashalms nach wie vor. Und es gibt Hegel, für den die kantische »Einschränkung des Wissens« selbst nur ein Stadium jenes absoluten Wissens ist, in dem Glaube und Wissenschaft konvergieren.
Worauf will Hegel hinaus?
Erlauben Sie zunächst noch ein Beispiel für Kants »Einschränkung des Wissens«. Ein Psychiater vor Gericht kann die Unzurechnungsfähigkeit eines Angeklagten bescheinigen, indem er feststellt, dass das normale Verhältnis von Trieb und Vernunft bei ihm gestört ist. Aber wenn er dem Angeklagten volle Zurechnungsfähigkeit bescheinigt, also Verantwortlichkeitfür seine Handlungen, dann überschreitet er im Grunde seine Kompetenz. Es gibt ja bekanntlich Neurowissenschaftler, die jedem Menschen die Zurechnungsfähigkeit absprechen. Das letzte Urteil fällt deshalb der Richter, der die wissenschaftlichen Gutachten in seine Urteilsbildung einbezieht. Freiheit selbst ist für ihn als denkenden Menschen eine Realität, zu der ein Wissenschaftler keinen privilegierten Zugang besitzt.
Im Unterschied zu Kant lässt sich Hegel nicht auf den Vernunftbegriff der modernen Wissenschaft, der Naturwissenschaft festlegen. Er hält dagegen: Das Nachdenken über die objektivierende Wissenschaft und ihre Grenzen ist doch ihrerseits wieder eine Leistung der Vernunft. Mit ihr erreicht die Vernunft eine höhere Stufe der Reflexion.
Hegel beendet seine »Phänomenologie des Geistes« mit der Bewusstseinsgestalt des »absoluten Wissens«. In seiner »Wissenschaft der Logik« finden sich in der Einleitung die Sätze: »Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, dass dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.« Ist dieser Anspruch eines endlichen Wesens, eines Menschen, der Hegel auch ist, nicht ungeheuerlich?
Ja, das ist er. Aber als Einwand, der
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