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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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solchen Verbrechens angeklagt zu werden?« fragte der Fliegergeneral mit anscheinend aufrichtiger Verwirrung.
    »Das waren natürlich die politischen Konsequenzen einer Entlarvung, Genosse General«, begann Jurij Tschiwartschew in einem allzu herablassenden Tonfall. Er nahm sich zusammen, bevor er fortfuhr. »Der britische Verteidigungsminister hatte unsere Spionin geschützt, ohne es zu wissen. Er hatte eine junge Schönheit geheiratet, die halb so alt war wie er selbst. Und diese war eine Spionin. Der britische Premierminister John Major hatte offenbar ebenso ahnungslos diese Ehe gebilligt und seinen Verteidigungsminister in Schutz genommen. Das bedeutet folgendes: Bei einer Entlarvung – und ich möchte hier nachdrücklich unterstreichen, daß sie kurz bevorstand – wäre die britische Regierung gestürzt worden. Es hätte einen unerhörten internationalen Skandal gegeben. Jetzt verstehen Sie sicher den Zusammenhang, Genosse General?«
    »Nein, Sie müssen schon entschuldigen, Genosse General, aber das tue ich nicht«, entgegnete der Fliegergeneral unsicher.
    »Ich meine… na und? Das wäre in dem Fall doch ein britisches Problem und kein russisches gewesen? Wir hätten doch wohl die Lacher auf unserer Seite gehabt?«
    »Da haben Sie bei allem Respekt, Genosse General, vollkommen unrecht«, erwiderte Jurij Tschiwartschew mit zusammengebissenen Zähnen. Gerade jetzt ging ihm auf, daß er sich mit einem politischen Idioten unterhielt. »Nach dem Kabinett John Major wäre eine neue britische Regierung ins Amt gekommen. Und diese neue britische Regierung wäre uns gegenüber äußerst rachsüchtig gestimmt gewesen. Sie hätte einfache und konkrete Gründe dazu gehabt. Inmitten von Entspannung und Friedenspolitik, nach dem Ende des kalten Krieges, während wir, Rußland, in der ganzen westlichen Welt herumlaufen, um uns Geld zu leihen, hätten wir uns in wiederholten Fällen zu Morden hinreißen lassen. Das hätte man als kriegerischen Akt gedeutet, und die öffentliche Meinung im Westen hätte uns in Stücke gerissen.«
    »Ich frage mich immer noch: na und?« sagte der Fliegergeneral schon etwas aggressiver, als protestierte er dagegen, daß man fast zu ihm sprach wie zu einem Kind. »So etwas ist doch schon früher passiert? Derlei prägt doch unsere gesamte neuere Geschichte?«
    »Sie scheinen es noch immer nicht zu verstehen«, sagte Jurij Tschiwartschew geduldig. Er hatte ein sehr klares Signal erhalten, das ihn darüber aufklärte, daß Arroganz und Überlegenheit nicht die richtige Taktik waren. »Großbritanniens engster Verbündeter sind bekanntlich die USA. Es wäre mit diesen beiden Staaten zu etwas gekommen, was man im Grund nur als einen Wirtschaftskrieg bezeichnen kann. In der Praxis wäre ein Wirtschaftskrieg mit dem gesamten Westen ausgebrochen. Und in der schwierigen Stunde des Vaterlands, in der wir uns jetzt befinden und die ich wohl nicht näher zu schildern brauche, wäre das eine absolute Katastrophe. Die gesamte gegenwärtig laufende Modernisierung unserer Industrie wäre unterbrochen worden. Der Handel wäre unterbrochen worden. Eins der ersten konkreten Ergebnisse wäre eine Hungerkatastrophe im ganzen Land gewesen. Lassen Sie mich Ihnen eine konservativ geschätzte Zahl nennen: Es hätte einhunderttausend Säuglinge das Leben gekostet.«
    Zum ersten Mal spürte Jurij Tschiwartschew, daß man ihn wirklich verstanden hatte. Die drei Richter starrten ihn an. Sie starrten tatsächlich, da sie für ein paar Sekunden ihre überlegene Würde verloren hatten. Es war der Fliegergeneral, der sich verhedderte. Jetzt schien es, als hätte er das Baby auf dem Schoß.
    »Verzeihung, Genosse General…«, begann er zögernd.
    »Verzeihen Sie, wenn ich frage, aber besitzen Sie wirklich die Kompetenz, solche Beurteilungen vorzunehmen?«
    »Ich arbeite nun schon seit fast dreißig Jahren bei der Raswedka!« begann Jurij Tschiwartschew aggressiv und mußte sich erneut Zügel anlegen, bevor er fortfuhr. »Gerade solche Beurteilungen fallen in meinen Kompetenzbereich.«
    Die drei Richter steckten erneut die Köpfe zusammen und berieten sich flüsternd. Jurij Tschiwartschew erhielt somit Zeit, seine Kampfeslust zu zügeln, und warf einen Seitenblick auf Larissa Nikolajewna. Sie nickte ihm kurz aufmunternd zu und zwinkerte schnell. Die frivole Geste schockierte ihn zunächst, doch dann ging ihm auf, daß sie wohl nur ein wenn auch übertrieben persönliches Zeichen gewählt hatte, um ihm ihre Zustimmung zu

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