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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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wohlbekannten Teilen der Moskauer Innenstadt herumspaziert, der Stadt innerhalb des Rings . Am Abend hatte er sich vor den Fernseher gesetzt. Erst ziemlich spät war ihm eingefallen, daß er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, als hätte er es einfach vergessen, weil er keinen Hunger gespürt hatte. Er bestellte sich etwas aufs Zimmer und zögerte lange, bis er den Zimmerservice ein zweites Mal anrief und bat, noch eine Flasche georgischen Rotwein hochzuschicken. Er erhielt eine schnippische Antwort, auch hier wiederum vermutlich, weil er russisch gesprochen hatte. Man klärte ihn darüber auf, daß es in diesem anständigen Hotel so etwas wie asiatischen Wein wirklich nicht gebe. Hingegen habe man amerikanischen Wein. Er gab nach und ließ sich eine Flasche kalifornischen Rotwein bringen, der zu süß und künstlich schmeckte, genau wie er vermutet hatte. Er trank zwei Gläser und ließ den Rest stehen.
    Er stand am nächsten Morgen früh auf, aß ein reelles englischdeutsches Frühstück und spazierte bei leichtem Schneetreiben und acht Grad unter Null in schnellem Tempo durch die Straßen. Er fühlte sich voller Adrenalin und Kampfeslust, die er zähmen mußte, damit etwas Zivileres und hoffentlich Intellektuelles daraus wurde. Heute sollte die Entscheidung fallen. Heute würde er die letzte Chance im Leben erhalten, etwas unzweideutig Gutes zu tun. Er würde für Jurij Tschiwartschews Leben kämpfen.
    Bevor er sich umzog, duschte er und rasierte sich mit großer Sorgfalt. Als er sich anschließend für die neue Theaterrolle zu kleiden begann, tat er es langsam, Moment für Moment, als ginge es um Uniform und Bewaffnung für praktische militärische Einsätze statt einer intellektuellen Aufgabe. Vielleicht war das für ihn eine Methode, sich in einen seelischen Bereitschaftszustand zu versetzen. Vielleicht ging es ihm nur darum, sich nicht albern und verkleidet zu fühlen, als ginge er zu einer Maskerade; die Admiralsuniform kam ihm trotzdem leicht unwirklich vor. Er zwang sich jedoch, sie sehr ernst zu nehmen, da sie im Moment die vielleicht wichtigste Waffe in seinem Arsenal war. Er übte den Beginn seines Auftritts sogar psychologisch ein, indem er einen der hoteleigenen Wagen bestellte, vom Fahrstuhl aus durch die lange Halle ging und dann, den Uniformmantel lose über die Schultern gehängt wie eine Art Umhang, die Treppe hinunterschritt. Als Bestätigung oder Beschwörung sah er, wie das Hotelpersonal dort unten, das ihn bisher nur in Jeans gesehen hatte, bei seinem Anblick reagierte. Drei westliche Admiralssterne sprachen eine kraftvolle Sprache.
    Er sah es noch deutlicher, als Larissa Nikolajewna ihm in dem langen, menschenleeren Korridor vor dem Gerichtssaal im dritten Stock entgegenging. Als er vor ihr stand, zog er sich schnell den Mantel von den Schultern und legte ihn sich über den Arm, bevor er ihr die Hand zum Gruß hinstreckte. Sie starrte ihn wie verhext an, während sie die Verwandlung, die er durchgemacht hatte, zu akzeptieren versuchte; es war ja nicht nur die Uniform, sondern auch sein Theaterspiel. Jetzt spielte er mit der gleichen Selbstverständlichkeit den Admiral, mit der er in seinem Säpo-Büro in Stockholm eine Art englischen Herrenclub spielte.
    »Carl Carlowitsch…«, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Für einen Schurken nehmen Sie sich aber sehr gut aus, oder wie soll ich sagen…«
    »Meine liebe Larissa Nikolajewna. Sie nehmen sich selbst sehr gut aus, worauf ich auch hinweisen muß«, erwiderte er übertrieben gedrechselt. Er verneigte sich ein wenig, wie die Rolle es verlangte.
    Sie waren übereingekommen, einander mit dem Vornamen und dem Vaternamen, aber mit Sie anzureden. So wurde er zu Carl Carlowitsch, da sein Vater ebenfalls Carl geheißen hatte. Als sie sich von der Überraschung dieses völlig neuen Carl Carlowitsch erholt hatte, zeigte sie auf eine Weine steinerne Bank in der Nähe. Sie schlenderten hin und setzten sich. Dann konzentrierte sie sich, sah auf die Armbanduhr und begann mit einem schnellen Vortrag der Lage.
    »Nach dem ersten Tag sah es für Jurij Gennadjewitsch sehr gut aus. Ohne allzu optimistisch zu sein, kann ich ganz einfach sagen, daß er mit den Richtern Schlitten gefahren ist. Gestern wendete sich das Blatt jedoch, da einer seiner früheren Kollegen als Zeuge aussagte und ihn immerzu nur als Landesverräter bezeichnete. Die Identität des Zeugen, ebenfalls Generalleutnant, wurde geheimgehalten. Dieser Mann hat das

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