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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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entscheidende Problem für jeden, der ein strenges Urteil will, dadurch gelöst, daß er allen Spekulationen einen Riegel vorschob. Auf alle Vermutungen, was geschehen wäre, wenn Jurij Gennadjewitsch nicht tätig geworden wäre, reagierte er nur mit einem harten: Wir beschäftigen uns hier mit Fakten und nicht mit Vermutungen.
    Jetzt geht es also um folgendes: Kann und soll ein führender Angehöriger des militärischen Nachrichtendienstes außenpolitische und ökonomische Beurteilungen vornehmen? Kann man mit genügender Präzision sagen, was geschehen wäre, wenn Jurij Gennadjewitsch nicht die Taten verübt hätte, die ihm jetzt diese Anklage eingebracht haben?«
    Carl antwortete jeweils nur mit einem kurzen, überzeugten Kopfnicken auf ihre Fragen. Dann sagte er, wenn man ihm im Gerichtssaal nur solche Fragen stelle, werde er schon die Antworten geben können, die sie von ihm wolle. Dann wollte er wissen, ob die Richter seine Vernehmung so hinbiegen könnten, daß es für den Angeklagten ungünstig sei, und gegebenenfalls wie.
    Sie begann mit einem nervösen und zu langen Ausflug in das russische Rechtssystem, dessen Strafprozeßordnung grundsätzlich inquisitorisch sei. Ein Strafprozeß sei anders als im Westen kein Spiel zwischen zwei gleichberechtigten Parteien vor objektiven Richtern. In Rußland seien es die Richter, die den Prozeß führten. Sie könnten eine Vernehmung jederzeit abbrechen oder sie von der Staatsanwaltschaft wie von der Verteidigung übernehmen.
    Carl unterbrach sie nach einiger Zeit mit der Frage, welchen Rang die drei Richter hätten. Sie erklärte unsicher, alle würden mit General oder Admiral angeredet. Dann nannte sie die Zahl der Sterne auf den Schulterstücken. Carl munterte sie mit einem selbstsicheren Lächeln auf und brummte, sie würden nicht damit anfangen, ihn exerzieren zu lassen. Sie könne ganz beruhigt sein. Dies sei ein Kampf, den er nicht zu verlieren gedenke.
    Das hatte sie nicht anders erwartet. Seine ruhige Selbstsicherheit gab ihr, wie er gehofft hatte, den Mut ein, den sie brauchte. Als sie mit einem letzten vorsichtigen und schüchternen Winken in den Gerichtssaal verschwand, hatten ihre Wangen wieder Farbe bekommen, und sie sah fröhlich und optimistisch aus.
    Kaum war sie verschwunden, sank Carl leicht zusammen. Seine Selbstsicherheit war zum Teil gespielt. Ihn überkam kurz das schwindelnde Gefühl, lächerlich auszusehen. Er fingerte nervös an dem großen Sankt-Georgs-Kreuz herum, das eigentlich am Hals hängen sollte, das er jetzt aber unten auf der Brust neben dem Roten Stern und unter den vier Reihen mit Ordensspangen und dem amerikanischen Navy-Seal-Symbol befestigt hatte. Wenn irgendein Kollege ihn zu Hause so zu Gesicht bekäme, würde er ihn auslachen und Witze über ihn machen, da er wie eine Schießbudenfigur aussah und sich vollkommen unmöglich verkleidet hatte. Doch die da im Gerichtssaal wußten das nicht, und für sie war das Theater gedacht. Nach und nach gelang es ihm, sich wieder aufzupumpen. Er atmete ruhig und versuchte, sich nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren, auf das Ziel, als stünde ihm ein Pistolenschießen bevor. Im Moment durfte es nichts anderes geben.
    Mit russischer Pünktlichkeit hatte er bisher noch keine sonderlich positiven Erfahrungen gemacht, und so kam es, daß er urplötzlich aus seiner yogaähnlichen Konzentration gerissen wurde, als die Türen zum Gerichtssaal um Punkt zehn aufgingen und jemand seinen Namen und seinen Dienstgrad rief.
    Er erhob sich langsam, rückte ein letztes Mal seine Uniform zurecht und ging dann sehr schnell und mit langen Schritten, mit dem felsenfesten Vorsatz, nicht zu zögern und nicht innezuhalten, in den Gerichtssaal. Die Uniformmütze hatte er unter den linken Ellbogen geklemmt. Mitten im Saal stand eine Art Rednerpult, das offenbar die russische Entsprechung des Zeugenstands war. Er ging zu diesem Pult, legte die Uniformmütze hin und suchte nacheinander den Blick der drei Richter. Einer nach dem anderen wich seinem Blick aus.
    Ein Major, der neben den Richtern saß, sprang jetzt auf und brüllte, der Zeuge solle seinen Namen, seinen Beruf und seine Adresse angeben. Doch Carl fand nicht die Zeit zu antworten, da der älteste Richter, der ranghöchste und folglich der Vorsitzende des Gerichts, den Major mit einer Handbewegung unterbrach und sich direkt an Carl wandte.
    »Einen Augenblick, bevor wir anfangen«, sagte der Generaloberst. »Hier ist eine praktische Frage entstanden, die

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