Über jeden Verdacht erhaben
Russin, obwohl sie in Wahrheit sehr schön war.
Er hatte sie schnell damit getröstet, daß sich schon noch etwas finden werde. Dann hatte er mit ihr einen kurzen Spaziergang zu dem ehemaligen »Zentralkaufhaus« GUM gemacht. Das Kaufhaus war inzwischen privatisiert und an freie Unternehmer vermietet worden. Hier gab es eine Reihe westlicher Modeboutiquen. Bei Gucci beging er den Fehler, russisch zu sprechen, weil er sich sagte, das sei am einfachsten und höflichsten. Daraufhin wurde er jedoch so herablassend behandelt und demonstrativ von Kopf bis Fuß gemustert, daß er es für das beste hielt, einfach wegzugehen. Sie nahm es mit Humor und meinte, eigentlich sollten sie sich geschmeichelt fühlen, weil man sie nur für ehrliche Menschen gehalten habe, die somit als Kunden undenkbar seien. Bei Yves Saint-Laurent, ein kurzes Stück weiter, fanden sie alles, was nötig war. Carl brauchte nur zwanzig Minuten, um Kleidungsstücke auszuwählen, mit denen sie ohne weiteres als Anwältin in Los Angeles oder Paris durchgehen konnte, wenn man einmal von ihrem Make-up absah. Diesmal sprach er englisch.
Es freute ihn, daß sie nicht begriff, was die Kleider kosteten. So konnte er über seine kleine Dankesschuld ihr gegenüber scherzen, als er bezahlte.
Hinterher fuhr er sie mit einem Taxi nach Hause. Sie wohnte etwa zwanzig Minuten von der Innenstadt entfernt. Er sagte, es komme ihm unvorsichtig vor, mit großen glänzenden Einkaufstüten mit ausländischer Aufschrift in der U-Bahn zu fahren. Vor einigen Jahren noch hätte keiner von ihnen an so etwas gedacht, denn damals wurde in der U-Bahn niemand überfallen oder bestohlen, »weil es verboten war«. Jetzt, in dem neuen, demokratischen Rußland, konnte man sich dessen nicht mehr so sicher sein.
Im Taxi erzählte sie, sie habe fast ihr Leben lang Leichtathletik betrieben, sei einmal bei den sowjetischen Meisterschaften im Fünfkampf zweite geworden. Ihre Spezialität sei der Weitsprung gewesen, und wäre das Sowjetsystem schon früher beseitigt worden, hätte sie wohl als beste Weitspringerin Rußlands an Weltmeisterschaften wie an Olympischen Spielen teilnehmen können.
Sie trainiere immer noch viel, vor allem, um nicht vorzeitig zu einer allzu dicken und überdies zu groß geratenen russischen babuschka zu werden. Jetzt stehe die Juristerei im Vordergrund. Vermutlich müsse sie ihre Spezialität, Strafsachen, aufgeben und zu Wirtschaftsrecht übergehen, falls sie und ihre beiden Kompagnons es schaffen sollten, ihre »privatkapitalistische« Anwaltskanzlei lohnend zu machen. In den kommenden Jahren würde die Kombination Wirtschaftsrecht und Strafrecht wahrscheinlich sehr gesucht sein.
Ihr ehemaliger Mann habe Kraftsport betrieben. All die Gifte, die er in sich hineingestopft habe, hätten ihn aggressiv und unausstehlich gemacht, erzählte sie, kurz bevor die Taxifahrt zu Ende war. Carl lehnte höflich, aber bestimmt ab, sie in ihre Wohnung zu begleiten, um eine Tasse Tee zu trinken. Er dachte nicht einmal darüber nach, ob sie tatsächlich Tee meinte oder etwas anderes.
Sie machte natürlich einen leicht verletzten Eindruck, weil er ihre freundliche kleine Geste zu entschieden ablehnte, doch er brachte es nicht über sich nachzugeben. Es kam ihm vor, als müßte er sich in kleinen Portionen wieder daran gewöhnen, mit Menschen umzugehen, die nichts von ihm wußten und es für selbstverständlich hielten, daß er war wie alle anderen, zumindest in der Hinsicht, daß auch er noch eine Familie hatte. Er fürchtete, ein allzu intensiver Umgang mit ihr könne ihn dazu bringen, sowohl sich selbst als auch sie in eine peinliche Situation zu bringen, weil er plötzlich zu erzählen anfing.
Sie hatte ihn am Abend nach dem ersten Prozeßtag angerufen und erzählt, daß es sehr gut gelaufen sei. Mehr wolle sie am Telefon nicht sagen. Jurij Gennadjewitsch lasse herzlich grüßen. Obwohl sie demonstrativ wiederholte, sie könne am Telefon nicht alles erzählen, lud er sie nicht zum Essen ein. Das nicht nur aus Furcht vor ihrer besonderen Schönheit, ihrem schönen Körper, sondern auch, weil er zu wenig über russische Rechtsvorschriften wußte. Vermutlich würde er unter Eid aussagen müssen. Vielleicht würde man ihn zwingen, dazu auszusagen, wie Larissa Nikolajewna ihn als Zeugen vorbereitet habe. Da mußten seine Antworten wahr und juristisch einwandfrei zugleich sein.
Während des freien Tages war er acht Stunden mehr oder weniger planlos in den zentralen und ihm meist
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