Über jeden Verdacht erhaben
Informanten beseitigt, stirbt das ganze System.«
Carl lehnte sich abwartend zurück und faltete die Hände vor sich auf der völlig leeren Tischplatte. Er hatte kein Prozeßmaterial bei sich, weder Papier noch Kugelschreiber. Er machte einen ruhigen oder vielleicht eher noch ausgeglichenen Eindruck. Hundert Paar Journalistenaugen, die nach Anzeichen von Unsicherheit, Arroganz, Irrsinn, Aggressivität oder anderem suchten, was die Dramatik hätte verstärken können, sahen nichts weiter als einen einfach gekleideten und äußerst durchtrainierten Mann mittleren Alters, der an einem Cafétisch zu sitzen und über interessante Dinge zu sprechen schien.
»Zusammenfassend ließe sich also sagen«, fuhr der Staatsanwalt nach einer langen Pause fort, die fast den geflüsterten Übersetzungen unter den Zuschauern angepaßt zu sein schien, »daß dein Motiv die wirksame Unschädlichmachung eines Systems gewesen ist, das in letzter Konsequenz zu Tod und menschlichen Tragödien geführt hat?«
»Ja, das ist eine korrekte Zusammenfassung«, bestätigte Carl.
»Willst du damit sagen, daß du dich auf eine Art übergesetzlichen Notstand berufst?« fragte der Staatsanwalt grübelnd.
»Ich meine, daß du behauptest, für einen guten Zweck gearbeitet zu haben, ferner dafür, ein gefährliches System unschädlich zu machen, und so weiter. Demnach hättest du das Recht gehabt, so zu handeln, wie du gehandelt hast?«
»Ich bin äußerst mißtrauisch, was Berufung auf sogenannte übergesetzliche Notstände angeht«, erwiderte Carl mit einem schiefen kleinen Lächeln. »Das habe ich während meiner Zeit beim militärischen Nachrichtendienst viel zu oft gehört. Ich fürchte aber, daß wir hier wohl einen bestimmten entscheidenden Unterschied finden werden. Denn wenn der Verteidigungsminister oder der Ministerpräsident mir Befehl gegeben hätten, in der Sache haargenau das gleiche zu tun, was in diesem Verfahren einer juristischen Würdigung unterzogen wird, wäre es legal gewesen. Ungeachtet dessen, ob damit ein guter Zweck verfolgt worden wäre oder man nur geglaubt hätte, einen guten Zweck zu verfolgen, um später zu erfahren, daß es nicht so war. Worüber ich jetzt berichte, sind Dinge, die ich tatsächlich miterlebt habe. Aber es wäre auf jeden Fall legal gewesen, ob nun mit oder ohne Notstand oder schlimmstenfalls verfassungsmäßigem Notstand , was ein bißchen feiner ist und für Minister gilt.
Aber wenn ich ohne Unterstützung der Regierung in der Sache die gleichen Taten verübe, handle ich kriminell. Dann haben die Taten einen Strafwert, dann ist für sie ein Preis zu zahlen. In meinem Fall lebenslängliche Haft. Das ist sehr einfach.«
»Aber wenn ich dich richtig verstehe«, begann der Oberstaatsanwalt zögernd, bevor ihm eine neue Assoziation kam und er auf ein anderes Gleis einbog, »und ich glaube schon, dich richtig verstanden zu haben, wobei es allerdings nicht alltäglich sein dürfte, daß der Angeklagte selbst meine bevorstehenden Einwände vorbringt. Ich darf mich also herzlich dafür bedanken, wie du für mich die Notstandsproblematik aufgedröselt hast. Aber, um noch ein letztes Mal auf diese Frage zurückzukommen: Bist du der Meinung, daß es Situationen geben kann, in denen es moralisch gerechtfertigt ist, Verbrechen zu begehen, sozusagen eine Art moralischen Notstand?«
»Ja, selbstverständlich«, erwiderte Carl und hob die Augenbrauen, als setzte ihn die Frage tatsächlich in Erstaunen.
»Könntest du dann so freundlich sein, dem Gericht diese Selbstverständlichkeit zu erläutern?« fragte der Oberstaatsanwalt ein wenig verwirrt.
»Die Menschen, die gegen den Nazismus in Deutschland Widerstand leisteten, begingen damals natürlich ebenfalls Verbrechen und mußten selbstverständlich den gesetzlichen Preis dafür zahlen, wenn man sie schnappte«, erwiderte Carl schnell.
»Die Nachwelt betrachtet sie natürlich nicht ohne weiteres als Verbrecher. Oder nehmen wir die PKK in der Türkei. In türkischen Gefängnissen sitzen vielleicht einhundert Schriftsteller und Journalisten, weil sie über Kurdistan geschrieben haben, und das ist ein Wort, das in der Türkei verboten ist. Übrigens sitzen auch zahlreiche Rechtsanwälte mit ihren früheren Mandanten ein, weil sie nichts weiter gewesen sind als Anwälte und das Recht ihrer Mandanten verteidigt haben, das Wort Kurdistan hinzuschreiben. Diese Menschen sind im Sinn der türkischen Gesetze natürlich auch Verbrecher. Sie sind es jedoch ganz bewußt,
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