Über jeden Verdacht erhaben
Vorsitzende konferierte kurz mit seinen Richterkollegen. Als sich herausstellte, daß keiner von ihnen weitere Fragen zu stellen hatte, wurde beschlossen, eine zehnminütige Pause zu machen und den Raum zu lüften, bevor mit den Plädoyers begonnen wurde.
Als Carl aufstand, um hinauszugehen, zog er fast lässig die Ketten, die in einem komplizierten System an seinen Fußgelenken und am Körper befestigt gewesen waren, hoch und ließ sie rasselnd auf den Tisch fallen, bevor er sich umdrehte und auf seinen Seitenausgang zuging. Seinen beiden Bewachern fiel nichts anderes ein, als ihm zu folgen. Die Fußketten blieben wie ein Zeichen von Humor oder eine Geste der Arroganz auf dem Tisch liegen.
Als der Saal sich zehn Minuten später wieder füllte, waren die Fußketten zum Gegenstand einer gewissen intellektuellen Bearbeitung geworden. Der Mann, der das Problem löste, war Oberstaatsanwalt Jan Danielsson. Er erklärte, die Staatsanwaltschaft sehe keinen Anlaß, den Angeklagten erneut in Ketten zu legen, da alles dafür spreche, daß er in jeder Hinsicht mit dem Gericht zusammenarbeiten und die Gerichtsordnung akzeptieren wolle. Das Gericht folgte dem Antrag des Staatsanwalts umgehend. Da hob Carl demonstrativ die Ketten zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, als wollte er sich damit nicht schmutzig machen. Er überreichte sie einem heftig errötenden Wärter. Dieser stopfte sie unter allgemeiner Heiterkeit und lautem Gerassel in eine seiner Jackentaschen.
In der amüsierten Stimmung erhielt der Staatsanwalt das Wort für sein Schlußplädoyer.
»Ja, Herr Vorsitzender…«, begann Jan Danielsson. Er rückte seine große Brille zurecht, räusperte sich und wartete ab, bis das muntere Stimmengewirr sich gelegt hatte. »Wir haben in diesem Gericht das schwedische Recht anzuwenden und nichts sonst. Selbst wenn man Sympathie oder gar Verständnis für die Kritik an den Verhältnissen empfindet, die man durchaus als ungeheure Mißstände bewerten kann und auf die Carl Hamilton uns hier aufmerksam gemacht hat, haben wir uns dennoch nur an unser Gesetz zu halten. Dann wird es in der Sache für mich leicht, die Anklage aus Sicht der Staatsanwaltschaft zusammenzufassen. Der Angeklagte ist einem gerichtspsychiatrischen Gutachten zufolge nicht psychisch gestört. Es gibt keine mildernden Umstände, denn ideologische Motive, andere Menschen zu töten, können in unserem Rechtssystem niemals als mildernde Umstände gewertet werden. Der Angeklagte ist der ihm zur Last gelegten Taten überführt und hat sie auch gestanden. Ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß der Prozeß durch Carl Hamiltons Mitwirkung und Hilfe auf beispiellose Weise erleichtert worden ist. Ich möchte dies gern in aller Öffentlichkeit sagen, obwohl es, was die juristischen Konsequenzen angeht, ohne jede Bedeutung ist. Bei den Taten handelt es sich um Mord in sechs Fällen. Die Morde waren sorgfältig geplant und wurden kaltblütig verübt. Da der Angeklagte rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat, kommt keine andere Strafe als lebenslänglicher Freiheitsentzug in Betracht. Und damit, Herr Vorsitzender, schließe ich meine Darlegungen.«
Der Oberstaatsanwalt sah ein wenig mitgenommen aus, als er sich setzte. Er hatte bei einem Mordprozeß noch nie ein so kurzes Plädoyer gehalten und würde es auch in Zukunft wohl nie mehr tun. Juristisch hatte er alles gesagt, was nötig war. Das enttäuscht murmelnde Journalistenpublikum hatte sicher etwas mehr erwartet.
»Hm«, sagte der Vorsitzende und blickte unmotiviert in seine Papiere. »Ich gehe davon aus, daß der Herr Oberstaatsanwalt sich das Recht vorbehält, nach dem Plädoyer der Gegenseite ergänzende Fragen zu stellen?«
»Ja, natürlich«, murmelte Jan Danielsson und lehnte sich zurück. Dann verschränkte er die Arme auf der Brust, als erwartete er jetzt keinerlei Grund mehr, sich Notizen zu machen.
»Verstehe«, sagte der Vorsitzende. »Dann darf ich die Verteidigung um ihr Schlußplädoyer bitten. Ich übergebe das Wort Herrn Rechtsanwalt Lönnerheden. Bitte sehr!«
»Herr Vorsitzender! Ich habe kein Schlußplädoyer zu halten«, sagte der junge Rechtsanwalt nervös. »Die Verteidigung hat keine Einwände gegen die juristischen Schlußfolgerungen, welche die Staatsanwaltschaft vorgebracht hat. Aus diesem Grund möchte ich meinem Mandanten das Wort zu einem eigenen Schlußwort übergeben.«
»Aha«, sagte der Vorsitzende leicht verwirrt. »Wenn das so ist, übergebe ich Admiral Hamilton
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