Über jeden Verdacht erhaben
auszusehen hat. Da sie viel von Sport verstand und eine Karriere als Weitspringerin hinter sich hatte, war ihr erster Gedanke, daß der Mann wie ein Zehnkämpfer aussah. Er trug Jeans und ein amerikanisches T-Shirt mit einer Aufschrift, die ihr nichts sagte, und hatte eine geöffnete Coca-Cola-Dose auf dem Couchtisch vor dem Fernsehgerät. Das einzige, was möglicherweise von dem Bild des unwissenden westlichen Sportlers abwich – soviel sie wußte, waren alle Sportler im Westen total ungebildet –, war die Tatsache, daß er im Fernsehen eine russische Diskussionssendung eingeschaltet hatte. Wenn sie ihre Reaktion nach streng juristischen Maßstäben beurteilen sollte oder zumindest als Rechtsanwältin, war er eine große Enttäuschung.
Carl reagierte exakt genauso. Wenn sie nicht unten vom Empfang aus angerufen hätte, hätte er die Situation möglicherweise mißverstanden und die Frau hinausgeworfen. Sie war sehr hochgewachsen. Ihr viel zu kurzer Rock entblößte ihre Beine auf eine Weise, die jede Gerichtsverhandlung stören mußte. Vermutlich war sie hübsch, jedoch geschmacklos geschminkt, so daß alle Schönheit von Chemikalien und Farbe ertränkt wurde. Der einzige Trost war, daß ihre dunkelbraune Haarfarbe vermutlich völlig echt war. Zumindest hatte sie sich nicht wasserstoffblond gemacht.
Sie begrüßten einander steif. Er schaltete den Fernseher aus, nahm seine leere Cola-Dose vom Tisch und fragte, ob er ihr etwas anbieten könne. Sie bat zögernd um eine Limonade. Er stellte ein 7Up und ein deutsches Bier hin, goß ein und setzte sich, während sie dicke Dokumentenstapel auf den Tisch legte.
»Nun«, sagte Carl und breitete die Arme aus, »um einen amerikanischen Ausdruck zu gebrauchen – ich stehe Ihnen mit Haut und Haaren zur Verfügung.«
Sein Versuch, freundlich zu sein, stieß auf völliges Unverständnis. Sie schien ihn total mißzuverstehen und warf ihm nur einen mißtrauischen Blick zu. Sie legte ihre letzten Dokumente auf den Tisch sowie einen Notizblock, den sie sorgfältig vor sich hinlegte.
»Ich habe nur gemeint, daß ich jetzt hier bin und Ihnen zur Verfügung stehe, Frau Anwältin. Ich bin bereit, Ihnen zuzuhören«, erläuterte Carl. Sein Versuch, das Gespräch mit einem kleinen Scherz zu eröffnen, war schmählich gescheitert. Vielleicht war ihm eine sprachliche Nuance entgangen, so daß sich das Ganze wie ein unanständiger Antrag angehört hatte?
»Sie sind wirklich Admiral?« begann sie abrupt.
»Ja, Vizeadmiral, um genau zu sein«, erwiderte Carl verblüfft.
»Und Sie haben eine hübsche Uniform mitgebracht, die das auf korrekte Weise illustriert?« fragte sie weiter und blickte mißbilligend auf seine amerikanischen Jeans und die Laufschuhe.
»Ja«, erwiderte er. »Ich habe eine vorschriftsmäßige Uniform mitgebracht. Sie hängt in der Garderobe.«
»Und die Medaillen?« fragte sie mit saurem Gesicht weiter.
»Die habe ich auch mit«, sagte Carl zögernd. »Aber im Original haben Sie doch nur die russischen Medaillen gemeint, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Anwältin?«
»Natürlich. Kann ich sie mal sehen?« fuhr sie fort, ohne ihn dabei anzusehen.
Carl erhob sich verwundert. Was er von Jurij Tschiwartschews Rechtsanwältin auch erwartet hatte, die Wirklichkeit kam nicht mal in die Nähe seiner Vorstellungen. Er zuckte die Achseln, ging zum Kleiderschrank und entnahm ihm eine Schatulle. Auf dem Rückweg klappte er sie auf, bevor er sie mit einer demonstrativ lässigen Geste vor der Frau auf den Tisch knallte.
Plötzlich veränderte sich ihre Haltung. Die Aggressivität zerfloß, und ihr Blick fuhr ein paarmal zwischen Schatulle und Carls fragendem Gesicht hin und her.
»Du lieber Himmel!« flüsterte sie schließlich. »Das da ist also das Großkreuz des Sankt-Georgs-Ordens? Das alles? Wollen Sie das alles anlegen?«
»Richtig«, sagte Carl verwirrt. »Das Kreuz mit dem orangeschwarzen Band soll am Hals hängen, dieses Ding hier, ich glaube, es heißt Ordensstern…«
»Ordensstern, ja, das ist korrekt!«
»Ja, er soll jedenfalls hier sitzen, unten auf der linken Seite der Uniform. Und das hier, ja, das sehen Sie doch, das ist der Rote Stern.«
»Aber das ist ja absolut wunderbar!« sagte sie, schlug die Hände zusammen und lachte.
»Verzeihung, Frau Anwältin«, begann Carl gereizt und verwirrt zugleich, »für eine juristische Diskussion scheint mir, daß das Ganze ein wenig… wie soll ich sagen? An einem etwas peripheren Ende beginnt, falls
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