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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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sie ihm …« Sie schloss die Hand und deutete einen Ruck an.
    Â»Armer Pfau!«, sagte Paolo.
    Â»Nein, nein, der war schlau und ist immer weggelaufen. Sie haben es nie geschafft, ihm die Feder herauszuziehen. Die fiel dann von selbst heraus, und so begann der Streit. Die ist mir! Nein, die ist mir! Ich hab sie zuerst gesehen! Ich hab sie aufgehoben! Jedes Jahr die gleiche Geschichte. Bis sie mir die Feder brachten und sie mir schenkten. Nur so haben sie aufgehört, sich zu zanken. Deshalb habe ich auf meiner Anrichte eine ganze Menge letzte Pfauenfedern stehen. Und deswegen habe ich Glück.«
    Sie zog eine Augenbraue hoch, wie um zu sagen: »Ja, so ist es.«
    Paolo riss nicht wirklich die Augen auf, aber sein Gesicht verriet Erstaunen.
    Â»Sie haben Glück?«
    Er schüttelte zweifelnd den Kopf und deutete dann mit dem Kinn in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    Â»Wen haben Sie dort besucht?«
    Â»Meinen Mann.«
    Â»Ihr Mann ist in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert …, und Sie meinen, Sie haben Glück?«
    Luisa senkte den Blick auf ihre Schuhe und dachte nach. Verstört wurde Paolo sich bewusst, dass sie auch diese Bemerkung seinerseits wörtlich nahm.
    Â»Na ja …, doch«, antwortet sie in der Tat gedankenversunken. »Nehmen Sie das hier zum Beispiel.«
    Sie machte eine weit ausholenden Armbewegung, die den Jeep einschloss, das Meer, über das sie jetzt nicht zurückfuhren, und die ganze Insel, auf der sie festsaßen.
    Â»Wäre mir das vor ein paar Jahren passiert, hätte ich nicht gewusst, was ich tun soll. Aber heute sind meine Kinder schon groß. Einen Tag länger allein …«
    Sie hob die Schultern und ließ sie mit nachdrücklicher Unbekümmertheit wieder fallen.
    Â»â€¦ das ist nicht tragisch. Also habe ich Glück, oder?«
    So beendete sie den Satz, mit diesem fragenden ›oder?‹, als wolle sie eine in der Tat ganz andere Alternative offen lassen: oder irre ich mich? , oder habe ich vielleicht unrecht ? Genauso ernst, wie sie seine Fragen aufgefasst hatte, bat sie ihn jetzt um eine Bestätigung ihrer Einschätzungen.
    Paolo führte eine Hand zur Schläfe, blinzelte und schüttelte den Kopf. Er schämte sich.
    Â»Verzeihung, ich bin zu weit gegangen. Ich hatte kein Recht, das zu sagen.«
    Â»Wieso? Sie haben doch nichts Schlimmes gesagt.«
    Luisa schaute ihn an, mit einem Blick, in dem nicht der Hauch einer Kränkung oder Verärgerung zu erkennen war.
    Â»Wen haben Sie denn besucht?«, fragte sie.
    Â»Meinen Sohn.«
    Luisa nickte, so als könne sie sich bereits alles denken.
    Â»Ein Sohn. Das ist schlimm.«
    In all den Jahren hatte Paolo nie engere Bekanntschaft mit Angehörigen anderer Häftlinge geschlossen. Dabei hatte er natürlich viele kennen gelernt. Eltern, Mütter und Väter, so wie er, aber auch Ehefrauen, Brüder, Schwestern. Manche waren zornig, andere depressiv, fast alle aber verzweifelt. Einige waren wie besessen von einem Furor, der ihnen eine hektische Energie verlieh, um die Paolo sie fast beneidete. Kinder von Inhaftierten hingegen waren ihm kaum begegnet, und wenn, waren sie meist noch relativ klein. Wer diesen Weg eingeschlagen hatte – zunächst der Untergrund, dann die Haftanstalt – war frühzeitig, wenn nicht gar schon als Jugendlicher, auf diese Bahn geraten: Nur wenige hatten vorher die Zeit, an Nachwuchs zu denken. Das Objekt ihrer Fürsorge und liebevollen Gefühle war der bewaffnete Kampf, der, anders als ein eigenes Kind, auch in Wohnungen, die unter falschem Namen gemietet waren, aufgezogen werden konnte. Hin und wieder hatte Paolo in Besuchsräumen Kinder gesehen, die bei den Großeltern aufwuchsen, deren Leben durch das Drama ihrer Familie zutiefst erschüttert worden war. Erwachsene Söhne oder Töchter von Häftlingen hatte Paolo hingegen nie erlebt.
    Immer mal wieder waren Angehörige von politischen Gefangenen an ihn herangetreten und hatten ihm vorschlagen, sich ihrer Initiative anzuschließen. Aber er hatte sich dem stets entzogen und zu vagen, wenig glaubhaften Ausreden Zuflucht genommen, die auf der Gegenseite, dessen war er sich sicher, nur Misstrauen und Unverständnis hervorgerufen hatten. Nicht dass er deren Engagement geringschätzt hätte. Häufig waren sie die Einzigen, die die Haftbedingungen in den Gefängnissen öffentlich machten: zum Beispiel die Dauer der

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