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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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waren die Elemente imstande, eben jene Menschen zu erreichen, deren Strafe darin bestand, aus der Natur herausgelöst worden zu sein? Menschen, die selbst beim Hofgang im Freien einen Ma schendraht über den Köpfen hatten und deren Hof eher ein Hühnerkäfig war.
    Paolo wusste es nicht. In den Besucherräumen der normalen Gefängnisse gab es Fenster, die häufig sogar recht breit, wenn auch vergittert waren. Mit diesen Gefängnisräumen kannte er sich mittlerweile gar zu gut aus. Mit Zellen nicht. In einer Zelle war er nie gewesen.
    Und ebenso wenig war es vorgekommen, dass er sich nach einen Besuch bei seinem Sohn noch länger in der Nähe der Anstalt aufgehalten hätte. Nach diesen Begegnungen hatte er es immer eilig gehabt, die für gewöhnlich lange und umständliche Fahrt nach Hause anzutreten. Jedes Mal passierte er fast im Laufschritte das Gefängnistor, das überall anders war, überall gleich, überall unvermeidlich und das sich nun wieder hinter ihm schloss. Nie warf er einen Blick zurück auf die Wachtürme, den Stacheldraht, die Umfassungsmauer.
    Mit großen Schritten ließ er das meist irgendwo am Stadtrand gelegene Gebäude hinter sich, lief, neben Papiermüll und hohem Gras, an den Seitenstreifen verlassener Straßen entlang und drehte sich dabei nicht einziges Mal um, so als sei man hinter ihm her. Bis er endlich die Haltestelle der Überlandbusse erreichte oder den Bahnhof einer dieser kleinen Provinzstädte, die zu besuchen er nie einen Grund gehabt hätte, wäre sein Sohn nicht ein mehrfacher Mörder und hätte sich nicht irgendeine gegenwärtige oder frühere Justizbehörde eben dieses Städtchen ausgesucht, um dort, zum Nutzen der lokalen Wirtschaft, eine Strafanstalt einzurichten. Dann endlich bestieg er ein Verkehrsmittel, das ihn von dort wegbrachte, weg, nur weit, weit weg.
    Weg von einem Ort, an den er jedoch immer zum jeweils frühesten Zeitpunkt, den ihm die Justizbehörde gewährte, zurückkehrte.
    Heute war das alles anders. Paolo wurde bewusst, dass er sich heute zum ersten Mal seit vielen Jahren längere Zeit, vielleicht sogar Tage oder zumindest solange sich der Sturm nicht gelegt hatte, in der Nähe seines Sohnes aufhalten würde. Nur ein paar Kilometer trennten sie, ihre Füßen berührten dasselbe aus dem Meer ragende Land. Dieses Unwetter brachte sie wieder so nahe zusammen wie seit der Zeit nicht mehr, als sein Sohn untergetaucht war. Vielleicht auch schon länger.
    Paolos Gedanken wanderten zurück zu jenen Ferien, als er ihm in Framura das Schwimmen beigebracht hatte. Der Kleine hatte sich weiter als sonst ins sommerlich ruhige Meer vorgewagt und hielt sich, während er schwamm, immer wieder mit einer Geste vollsten Vertrauens an der Schulter des Vaters fest. Ab und an berührte auch ein Fuß oder Zeh oder Ellbogen Paolos nackte Haut im Wasser, doch die meiste Zeit war ihre einzige Verbindung diese kleine Hand, die gekrümmt neben seinem Hals lag. Und doch war es für Paolo, als seien ihre Körper jetzt noch enger verbunden, als wenn er ihn ganz in den Arm genommen hätte wie manchmal abends, damit er besser einschlafen konnte oder um ihn zu trösten, wenn er hingefallen war. Die sanft schwappenden goldenen Wellen trennten sie voneinander und führten sie gleichzeitig zusammen, zu einem Austausch, der etwas Absolutes hatte. Und außerdem – Paolo wusste es, ohne sich umdrehen zu müssen – stand Emilia am Strand, mit den nackten Füßen auf den Kieselsteinen, eine Hand vor der Stirn, um die Augen gegen die Nachmittagssonne abzuschirmen, und wandte keinen Moment den Blick von ihnen ab und war auf diese Weise in ihre Gemeinschaft eingeschlossen.
    Jetzt, nach so vielen Jahren, spürte Paolo wieder auf geheimnisvolle Weise, wie ihn die Elemente mit seinem gefangenen Sohn verbanden. Beide waren sie umgeben vom Tosen der Brecher an den Klippen, beide atmeten sie die gleiche jodgetränkte Luft, beide – oder zumindest Paolo sowie die dicken Mauern, die seinen Sohn umgaben – wurden sie vom gleichen Sturm gepeitscht. Und mit der ihm vertrauten Mischung aus Bestürzung, Erleichterung und Schmerz wurde ihm wieder bewusst, wie unzerstörbar die Liebe war, die er für seinen Sohn empfand.
    Die Frau hatte Paolo den Blick ihrer klaren Augen zugewandt, wahrscheinlich weil ihm einer dieser lauten Seufzer entfahren war. Der Mannschaftswagen hielt

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