Ueber Meereshoehe
er fast nicht mehr spürte, wie unbequem seine Lage war. Er ging nicht dem Gedanken nach, wann er zum letzten Mal eine Frau umarmt (seine Schwester bei Emilias Beerdigung) oder einer Frau zärtlich übers Haar gestri chen hatte (Emilia im Sarg): Schwer wie eine Win terdecke senkte sich die Müdigkeit auf ihn herab, und er wünschte sich nichts anderes mehr, als diesem Ge wicht nachzugeben.
Er war fast schon eingeschlafen, als Luisa ihn mit näselnder Stimme fragte:
»Warum haben Sie eigentlich gelacht?«
»Was?«, rief Paolo, aufgeschreckt wie jemand, der mit Macht auf die Schwelle des Bewusstseins zurückgerissen wird.
»Ich meine bei dem Unfall. Das heiÃt, kurz danach.«
Paolo hob den Kopf, um sie anzuschauen.
»Ich weià nicht, was Sie meinen.«
»Ach, diese Sache mit der nackten Gräfin.«
Luisa schien hellwach zu sein.
Verwundert blinzelte Paolo zu ihr hinüber. Erst nach einer Weile erinnerte er sich wieder an den Witz, den der Fahrer des Transporters gemacht hatte. Und mit belegter Stimme antwortete er: »Die auf den Spiegeln?«
»Ja. Was ist lustig daran, wenn sie sich hässlich findet?«
Mittlerweile war Paolo ganz aus dem Halbschlaf erwacht. Ungläubig starrte er sie an. Konnte das wahr sein, dass sie ihn jetzt darum bat, ihr diesen platten, ja einfach peinlichen Witz zu erklären? Er erinnerte sich noch an das Gefühl, halb Verlegenheit, halb Belustigung angesichts der absurden Situation, das ihn einmal in der Umkleidekabine im Schwimmbad überkommen hatte, in der er sich mit seinem dreijährigen Sohn aufhielt. Der Junge hatte auf die von der Badehose entblöÃten Genitalien seines Vaters gedeutet und ihn besorgt gefragt:
»Sieht mein Pillermann später auch mal so hässlich aus?«
Paolo hätte ihn beruhigen â nein, nein, er brauche keine Angst zu haben, sein Pillermann werde immer so schön bleiben â oder versuchen können, ihn zu überzeugen, dass der Penis eines Erwachsenen so häss lich ja nun auch wieder nicht sei. Stattdessen brach er nur in Lachen aus, nahm den Kleinen in den Arm und überhäufte ihn mit Küssen.
»Nicht, sie sah nicht gut aus«, antwortete er jetzt, »sondern: das sah nicht gut aus.«
Luisa schwieg. Dachte nach. Ihre Finger hatten wieder festen Besitz von Paolos Hand ergriffen.
»Nichts zu machen. Ich kann da nicht lachen. Offenbar bin ich zu dumm.«
»Das ist nicht wahr.«
Luisa zog noch einmal die Nase hoch.
»Doch, doch. Es wäre schön, wenn ich klüger wäre, etwas von Philosophie verstehen würde â¦Â«
»Wer tut das schon!«
Luisa seufzte nachdenklich.
»Ach, schlafen wir lieber«, sagte sie.
»Ja, das sollten wir«, antwortete er.
Sich weiter an den Händen haltend, schlummerten sie augenblicklich ein und schliefen bald so fest wie Tiere im Winterschlaf.
Erst jetzt öffnete Nitti die Augen. Wie lange lag er wohl schon wach und hatte ihnen zugehört?
Paolo und Luisa rieben sich die Augen, während ihnen ein intensiver, bitterer Duft in die Nase zog. Nitti weckte sie mit Kaffee. Maria Caterina hatte die Thermoskanne bis an den Rand gefüllt, die er immer mitnahm, wenn er Nachtschicht hatte.
Als Tasse hatten sie nur den Kannendeckel. Der Vollzugsbeamte lieà zuerst Luisa trinken, dann Paolo und nahm selbst den letzten Schluck.
»Der ist ja noch heië, staunte Luisa.
Nitti zeigte auf die Thermoskanne.
»Deutsche Wertarbeit. Hat mir die Schwägerin geschenkt. Die ist in Stuttgart verheiratet.«
Durch das Fensterviereck fiel ein blendendes Licht. Alle Wolken waren hinweggefegt worden, und es war ein klarer, sonniger Morgen.
»Ich könnte Ihnen etwas Sauberes zum Anziehen geben.« Nitti deutete zuerst auf Paolo, dann auf Luisa. »Sie müssten ungefähr meine GröÃe haben. Und meine Frau ist wohl etwas kleiner als Sie, aber ihr Frauen seid doch geschickt darin, euch Kleider zurechtzumachen.«
Beide bedankten sich für das Angebot, sagten aber, dass es nicht nötig sei.
Dann gingen sie sich frisch machen, jeder in seinem eigenen, gut ausgestatteten Bad, fast wie im Hotel. Angenehm erfrischt kehrten beide zu Nitti zurück.
Plötzlich hörte man ein Hupen. Dann eine Pause, das Zuschlagen einer Wagentür und eine unverkennbar Stimme so rau wie der Fels der Insel.
»Nitti!«
Der Beamte öffnete die Tür. Auf der freien Fläche vor dem
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