Ueber Meereshoehe
die Lider gesenkt, während seine Wange in ihrer Handfläche ruhte. Plötzlich ergriff er ihre Hand und schlug sie sich einmal gegen den Wangenknochen. Dann stand er wieder da, ohne die Augen zu öffnen, die wie eine geschlossene Schatulle seinen Schmerz bargen, und hielt ihre Handfläche fest, die sein Gesicht tröstete. SchlieÃlich schlang er, wieder ruckartig, die Augen immer noch geschlossen, die Arme um sie und zog sie zu sich heran.
Luisa wehrte sich nicht, sondern lieà sich umarmen. Sie legte den Kopf an seine Schulter und begann zu schluchzen, und die Schluchzer durchzuckten ihren ganzen Körper, den Brustkorb, die Schultern, das Becken, die Beine. Jetzt war es Paolo, der ihr Haar streichelte, während sie weinte, und je heftiger sie weinte, desto offener streichelte er sie, voller Hingabe, über den Nacken, hinter den Ohren, über den Scheitel. Erst nach einer Weile versuchte sie, etwas zu sagen.
»Tut mir leid ⦠Das ist nicht recht ⦠Sie sind es doch â¦Â«, murmelte sie mit verstopfter Nase.
Sie hatte die Schulter seines Hemdes mit Tränen und Schleim benetzt.
»Nein, nein«, antwortete er, indem er ihr weiter übers Haar streichelte. »Nein, nein. Es ist schon gut.«
Und von Paolos Armen gehalten, weinte Luisa, weinte, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Sie weinte wegen der Menstruationsschmerzen auf dem Traktor. Weinte wegen der Ravioli, von denen ihre jüngste Tochter so gern gegessen hätte und die dann im Abfall gelandet waren. Weinte wegen der Männerschuhe, die sie seit Jahren im November und April aus dem Schuhschrank holte und putzte. Sie weinte um das kleine Mädchen, das damals drei und heute sechs war und solch einen schönen Namen hatte. Sie weinte um ihre Kinder, die auf dem Schulhof »Dein Vater ist ein Mörder« zu hören bekamen. Sie weinte um diesen Mann, den sie bis gestern nicht kannte und dessen Mund Klagelaute entfuhren. Sie weinte wegen der Umarmung, in der er sie jetzt hielt. Sie weinte um den Saufkumpan, den ihr Ehemann in einer Winternacht totgeprügelt hatte, weinte um ihren Ehemann, der von den Kollegen des Wärters, den er umgebracht hatte, bis aufs Blut zusammengeschlagen worden war. Sie weinte wegen ihrer Angst als junge Ehefrau auf dem Berggipfel. Weinte wegen des Abends, als sie zum ersten Mal zum Tanzen ausgeführt wurde, weinte wegen des schönen Lächelns, in das sie sich verliebt hatte. Sie weinte wegen der Leibesvisitationen in den Vorzimmern der Besucherräume. Weinte um den Pädophilen, der so nett zu den Kindern war. Sie weinte um ihre eigene Kindheit, ihre eigene Jugend, weinte um die Pasta mit Seeigeln, weinte um ihre Tochter, die am Telefon »Mach dir keine Sorgen« zu ihr gesagt hatte. Sie weinte, weil sie nicht mehr geweint hatte, seit sie dreizehn, und ihre Haare nicht mehr gestreichelt wurden, seit sie elf war.
Als sie sich zu beruhigen begann, führte Paolo sie an den Schulterblättern zu ihrer Matratze, und sie lieà sich wie von einem Hirten leiten. Erst als sie auf dem Bett saÃ, lieà er ihre Schultern los und ging den Friseurstuhl von der anderen Seite des Zimmers holen. Er war schwer und der Metallfuà schleifte mit einem unangenehmen Geräusch über die Kacheln. Beide drehten sich zu Nitti um: Der Vollzugsbeamte schnarchte nicht mehr, schlief aber weiter ruhig auf seinen drei Stühlen.
Paolo stellte den Friseurstuhl neben das schmale Bett, während Luisa immer noch auf dem Rand der Matratze saÃ, in sich zusammengesunken wie eine Puppe ohne Puppenspieler; nur hin und wieder durchzuckte sie ein Schluchzer. Er legte ihr eine Hand unter den Kopf und führte ihn zum Kissen. Sie legte ihn füg sam darauf, nahm die Beine hoch und steckte sie unter Maria Caterinas Decke. Dann lieà er sich auf dem Friseurstuhl neben ihr nieder und ergriff ihre Hand.
Luisas Schluchzer wurden immer seltener und schwächer wie das Donnern eines Gewitters, das in der Ferne verhallt, bis sie sich ganz beruhigt hatte.
So verharrten sie lange: sie liegend, er sitzend, beide mit geschlossenen Augen, verbunden nur durch den festen Griff ihrer Finger. Der rechteckige Lichtkegel, der durchs Fenster auf die FuÃbodenkacheln fiel, streifte Nittis übereinandergeschlagene FüÃe. Der Vollmond brachte das glatte Leder seiner Schuhe zum Glänzen.
Paolo hatte sich tief auf dem Friseurstuhl zurücksinken lassen. So erschöpft war er, dass
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