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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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dumm sie sich dabei vorgekommen war. An das Wildschwein im strömenden Regen.
    An ihre Tochter, die am Telefon »Hier ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen« zu ihr sagte und wie sie dabei eine fast schmerzhafte Regung der Dankbarkeit verspürt hatte. An die angestrahlten Meeräschen, die über der Wasseroberfläche tanzten. An Maria Caterinas Gesicht.
    Sie drehte sich ein wenig zur Seite und öffnete die Augen. Auf drei Stühlen ausgestreckt, den Kopf auf dem von zu Hause mitgebrachten Kissen, lag Nitti ruhig da und schnarchte leise.
    Luisa dachte an die Aufseher in Volterra, die fast ihren Mann gelyncht hätten, nachdem dieser einen ihrer Kollegen getötet hatte. Nur das Eintreffen des Gefängnisdirektors habe ihn gerettet, wurde ihr mitgeteilt, und dass man ihn nun in eine Hochsicherheitsstrafanstalt verlegen würde. Auf diese Insel also.
    Paolo hatte seinen Friseurstuhl verlassen. Er stand jetzt vor dem Fenster, den Kopf im Nacken, den Blick hoch zum Mond gerichtet, der plötzlich hinter den Wolken hervorgekommen war. Es war fast Vollmond.
    Luisa hörte, wie er einen dieser Seufzer von sich gab, die einem Stöhnen so ähnlich waren und bei denen es ihr vor Mitleid das Herz zusammenzog.
    Ob er überhaupt merkte, wenn er sie ausstieß? Wahrscheinlich nicht. Jetzt sah sie, wie er die Hand in eine Hosentasche steckte, seine Brieftasche hervorholte und darin nach etwas suchte.
    Durch das halb fertiggestellte Gebäude zog der Wind. Überall raschelte es, vor allem vom oberen Stockwerk her, von dem sie nur eine Gipsplatte trennte, hörte man noch ein stürmisches Brausen. Es schien durch den Treppenschacht verstärkt zu werden, denn an der Krone des Feigenbaumes war deutlich zu erkennen, dass der Sturm stark abgeflaut war. Paolo hatte etwas in der Hand, das wie die Seite einer Tageszeitung aussah. Das Mondlicht erhellte die Überschrift und ein Foto: das Bild eines Mädchens auf einer Beerdigung.
    Â»Wer ist das?«
    Paolo zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass Luisa zu ihm getreten war. Sie stand jetzt neben ihm.
    Â»Sie heißt Angelina«, sagte er, den Blick auf den Zeitungsausschnitt in seiner Hand gerichtet.
    Â»Ein schöner Name.«
    Â»Ja. Sehr schön.«
    Sie flüsterten beide. Paolo blickte weiter auf das Foto.
    Â»Es ist die Tochter eines der Männer, die mein Sohn erschossen hat. Das Foto wurde bei der Beerdigung ihres Vaters aufgenommen. Da war sie drei Jahre alt. Jetzt wird sie bald sechs.«
    Â»Darf ich mal sehen?«, fragte Luisa, indem sie die Hand ausstreckte.
    Er reichte ihr das Stück Papier. Sie nahm es entgegen und betrachtete es genau. Als sie es ihm zurückgab, traf das Mondlicht schräg ihre klaren Augen.
    Â»Warum haben Sie das in der Brieftasche?«
    Er sog geräuschvoll die Luft durch die Nase ein.
    Zog sich am Ohrläppchen.
    Verlagerte das Gewicht vom rechten auf den linken Fuß, dann wieder zurück.
    Â»An dem Tag, als mein Sohn verhaftet wurde, berichteten alle Zeitungen und Nachrichtensendungen über ihn. Und auch über seine Opfer, zumindest über die, von denen man wusste. Am nächsten Morgen war ich in der Schule. Ich hatte Unterricht in einer Abiturklasse, wir nahmen gerade Kant durch.«
    Â»Was ist das?«
    Â»Kant war ein Philosoph.«
    Â»Aha. Schwierig?«
    Â»Nun ja. Manchmal schon.«
    Paolo schaute zum Mond. Er war frei von Wolken, und die Krater hoben sich klar wie frische Spuren im Schnee von der Oberfläche ab.
    Â»Aber das Schönste, was er gesagt hat, ist nicht schwierig. Gar nicht. Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das mo ralische Gesetz in mir. «
    Â»Schön«, murmelte Luisa. »Und es stimmt: das ist nicht schwierig.«
    Â»Nein. Zumindest ist es nicht schwierig zu verstehen.«
    Er blickte sie an, so als wolle er ihr etwas sagen, was sie betraf, hatte auch bereits den Mund geöffnet, schloss ihn aber wieder. Er wartete einige Augenblicke und erzählte dann weiter. Immer noch leise, um den Vollzugsbeamten nicht zu wecken.
    Â»Nach der Unterrichtsstunde kam einer der Jungen zu mir ans Pult. Er war ein guter Schüler, einer von denen, die sich beteiligen, Fragen stellen, uns Lehrern das Gefühl geben, sinnvolle Arbeit zu verrichten. Es war klar, dass er ein hervorragendes Abitur hinlegen würde. Dieser Schüler wartet also,

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