Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
Vom Netzwerk:
bis auch der letzte Klassenkamerad zur Pause hinaus ist, und dann sagt er zu mir: ›Richten Sie Ihrem Sohn bitte aus, dass zahlreiche Genossen stolz darauf sind, was er getan hat.‹ Und dann machte er noch diese Geste. So.«
    Paolo hob den Arm mit der geballten Faust, mechanisch wie ein von einem Getriebe in Bewegung gesetzter Hebel.
    Â»Noch am gleichen Morgen habe ich unseren Direk tor aufgesucht und um eine Beurlaubung gebeten. Ich bin nie wieder in die Schule zurückgekehrt.«
    Er schwieg. Sie gleichfalls, so als erwarte sie, dass er mit seiner Erklärung fortfahre.
    In Ligurien, wo sie die Ferien verbrachten, hatte Paolos Sohn schon von klein auf einen gleichaltrigen Spielkameraden. Im Sommer waren die beiden unzertrennlich. Dieser Junge kam aus einer richtigen Bauernfamilie und hatte zehn, elf Geschwister. Und er war sehr intelligent. Mit vierzehn schickten die Eltern ihn zum Arbeiten in ein Sägewerk nach Sestri Levante, der nächstgrößeren Stadt, und als Paolos Sohn im Juni jenes Jahres wieder in Ligurien Ferien machte, schaute er wie immer sofort bei ihm vorbei. Doch der Freund hatte keine Zeit mehr, mit ihm zu spielen. Jetzt wurde er im Morgengrauen geweckt, um mit anderen Pendlern den ersten Zug zur Arbeit zu nehmen, und kehrte erst zum Abendessen nach Hause zurück. Wie früher zusammen mit seinem Kameraden aus der Stadt auf Jagd nach Tintenfischen zu gehen, daran war nicht mehr zu denken. Paolos Sohn hingegen hatte frei, denn er besuchte das humanistische Gymnasium, und vor ihm lag ein ganzer Sommer mit Baden und Faulenzen, wie er es seit Kindertagen nicht anders kannte: Und er schämte sich dessen entsetzlich. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm die Ungerechtigkeit dieser Gesellschaft bewusst: Hätte sein Freund weiter zur Schule gehen dürfen, hätte er garantiert einen guten Abschluss gemacht, hätte vielleicht studiert und wäre Arzt oder Professor geworden.
    Aber nein: Stattdessen musste er mit vierzehn in einem Sägewerk arbeiten. Und das Höchste, was er an streben konnte, war, eines Tages vielleicht Facharbeiter zu werden.
    Damals hatte Paolo seinen Sohn zu lehren begonnen, sich mit der Welt, wie sie war, ihrer Ungleichheit, nicht abzufinden. Er erzählte ihm von dem Philosophen aus Trier, der das Bild einer Gesellschaft entworfen hatte, in der jeder nach seinen Bedürfnissen versorgt und zu der jeder nach seinen Fähigkeiten beitragen würde. Er lehrte ihn, sich für eine Welt einzusetzen, in der ein Kind aus einer Bauernfamilie studieren und seine Talente entfalten konnte. Wovon alle ihren Nutzen hätten: der Einzelne ebenso wie die Gesellschaft. Was konnte man sich Schöneres, Humaneres vorstellen?
    Es wäre das Paradies auf Erden. Nur hatten dann, wie schon zu oft in diesem verfluchten Jahrhundert geschehen, sein Sohn und dessen Genossen im Namen dieses Paradieses ein Inferno angerichtet.
    Doch dieses Paradies anzustreben, das hatte er, Paolo, ihn gelehrt.
    Â»Mir ist klar geworden, dass ich ein schlechter Lehrer war«, antwortete er Luisa.
    Sie schwieg, unterließ jede Bemerkung. Und Paolo hatte den Eindruck, sie nehme alles, was er sagte, in sich auf so wie die Erde den Regen: Das Wasser ver schwand, hörte aber nicht auf zu existieren, auch wenn niemand sagen konnte, in welcher Schicht es gespeichert und aus welcher Quelle es wieder austreten würde.
    Nach einigen Augenblicken deutete Luisa erneut auf den Zeitungsausschnitt.
    Â»Und was ist nun damit? Warum tragen Sie es immer bei sich?«
    Er senkte den Blick auf das Stück Papier und ließ ihn dort ruhen. Als liege in diesen Buchstaben, dem Foto, dem Mäntelchen des kleinen Mädchens die Antwort auf ihre Frage. Er stieß wieder einen dieser schweren Seufzer aus, nun fast ein Jaulen – und dieses Mal war offensichtlich, dass er es selbst gemerkt hatte. Der Blick, mit dem er sie ansah, war dermaßen hilflos, traurig, resigniert, dass Luisa einen Moment lang vor Mitleid der Atem stockte.
    Â»Weil es das Letzte ist, was mir von meinem Sohn geblieben ist.«
    Luisa hatte auszuatmen vergessen, und ihre Schultern waren noch angespannt.
    Als sie sie wieder sinken ließ, waren ihr Tränen in die Augen gestiegen. Sie hob einen Arm, streckte die Hand aus, führte sie zu Paolos Gesicht und berührte es ganz sanft mit den Fingerspitzen.
    Paolo schloss die Augen und neigte kaum merklich den Kopf, wie um ihn in ihre Hand zu legen. So stand er da,

Weitere Kostenlose Bücher