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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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der Rosenduft die Luft zwischen uns. Ich atme ihn ein, denke an Joe und weiß ganz genau, dass es nicht die
Rosen waren, die diese Liebe in meinem Herzen haben sprießen lassen, sondern der Junge, so ein faszinierender Junge. Wie konnte ich nur?
    In der Ferne ruft eine Eule, ein hohler, einsamer Klang, der dieselben Gefühle in mir auslöst.
    Big redet weiter, als ob gar keine Zeit vergangen wäre. »Nee, Bailey war keine von denen, die es hatte -«
    »Was willst du damit sagen?«, frage ich und richte mich auf.
    Er hört auf zu zwirbeln. Sein Gesicht ist ernst geworden. »Grama war anders, als wir heranwuchsen«, sagt er. »Wenn das sonst noch jemand gehabt hat, dann sie.«
    »Grama verlässt doch kaum mal die Nachbarschaft.« Ich kann ihm nicht folgen.
    Er schmunzelt. »Ich weiß. Das beweist wohl, wie wenig ich an dieses Gen glaube. Ich hab immer gedacht, meine Mutter hätte es. Ich dachte, sie hielte es nur irgendwie unter Verschluss, indem sie sich wochenlang in diesem Atelier verschanzte und es auf die Leinwände schleuderte.«
    »Na, wenn das so ist, warum hat meine Mutter es denn nicht einfach unterdrückt?« Ich versuche, leise zu sprechen, aber plötzlich bin ich fuchsteufelswild. »Warum musste sie weggehen, wenn Grama nur ein paar Bilder malen muss?«
    »Weiß ich nicht, Schatz, vielleicht hatte Paige es schlimmer.«
    » Was hatte sie schlimmer?«
    »Keine Ahnung!« Und ich merke, dass er es wirklich nicht weiß, dass er genauso frustriert und verwirrt ist wie ich. »Was immer das auch ist, was eine Frau dazu veranlasst, zwei
kleine Kinder, ihren Bruder und ihre Mutter zu verlassen und sechzehn Jahre nicht zurückzukommen. Das! Damit will ich sagen, bei uns heißt das Wanderlust, aber andere Familien sind da vielleicht nicht so freundlich.«
    »Wie würden andere Familien es denn nennen?«, frage ich. Noch nie hat er Derartiges über Mom durchblicken lassen. Ist das alles nur eine Coverstory für Irrsinn? Hatte sie wirklich und wahrhaftig nicht mehr alle Äste in der Krone?
    »Spielt keine Rolle, wie andere das nennen würden, Len«, sagt er. »Das ist unsere Geschichte.«
    Das ist unsere Geschichte . Das sagt er in seinem Verkündigungston und so kommt es auch bei mir an: mit Gewicht. Man sollte meinen, so viel wie ich lese, hätte ich schon mal darüber nachgedacht, doch das habe ich nicht. Noch nie habe ich über die Interpretation, die Erzählkunst des Lebens, meines Lebens, nachgedacht. Ich kam mir immer vor wie in einer Geschichte, ja, aber nicht wie der Autor dieser Geschichte und ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass ich irgendwie Einfluss darauf nehmen konnte, wie sie erzählt wurde.
    Du kannst deine Geschichte auf jede verdammte Weise erzählen, die dir gefällt.
    Sie ist dein Solo.

27. Kapitel

    (Gefunden auf einer aus Sturmhöhe herausgerissenen Seite, im Wald auf einen Zweig gespießt)

    JOELOSIGKEIT LEGT SICH über den Morgen wie ein Leichentuch. Grama und ich hängen rückgratlos in entgegengesetzte Richtungen starrend über dem Küchentisch.
    Als ich gestern Nacht wieder ins Allerheiligste gegangen bin, habe ich Baileys Heft zu den anderen in den Karton gelegt und ihn zugeklebt. Dann habe ich den heiligen Antonius auf das Sims vor der Halbmutter zurückgestellt. Ich weiß nicht, wie ich meine Mutter finden werde, aber ich weiß genau, dass es nicht über das Internet sein wird. Die ganze Nacht habe ich über das nachgedacht, was Big gesagt hat. Möglicherweise ist keiner in dieser Familie ganz der, für den ich ihn gehalten habe, das gilt besonders für mich. Bei mir hat Big voll ins Schwarze getroffen, da bin ich mir ziemlich sicher.
    Und mit Bailey vielleicht auch. Vielleicht hat Big recht und sie hat es nicht gehabt – was immer es auch ist. Vielleicht wollte meine Schwester einfach nur hierblieben, heiraten und eine Familie haben.
    Vielleicht war es das, was sie unter außergewöhnlich verstand.
    »Bailey hatte all diese Geheimnisse«, sage ich zu Grama.
    »Scheint in der Familie zu liegen«, erwidert sie mit einem müden Seufzen.
    Ich will sie fragen, wie sie das meint, weil ich mich erinnere, was Big gestern Nacht auch über sie gesagt hat, aber das kann ich nicht, weil er gerade reingestapft kommt, als Double von Paul Bunyan, dem Riesenholzfäller. Er wirft einen Blick auf uns und sagt: »Wer ist gestorben?« Mitten im Schritt erstarrt er und schüttelt den Kopf. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich das eben gesagt hab.« Er klopft sich
gegen den Schädel, als wollte er

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