Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
Vom Netzwerk:
prüfen, ob jemand zu Hause ist. Dann sieht er sich um.
    »He, wo steckt Joe heute Morgen?«
    Grama und ich schauen beide zu Boden.
    »Was ist?«, fragt er.
    »Ich glaub nicht, dass er noch mal kommt«, sage ich.
    »Echt?« Vor meinen Augen schrumpft Big von Gulliver zum Liliputaner. »Warum, mein Schatz?«
    Mir kommen die Tränen. »Weiß nicht.«
    Gnädigerweise lässt er das Thema fallen und verlässt die Küche, um nach den Käfern zu sehen.
    Den ganzen Weg zum Deli denke ich an die verrückte französische Geigerin, in die Joe verliebt war, mit der er nie wieder gesprochen hat. Ich denke an seine Einschätzung von Hornisten als Alles-oder-nichts-Typen. Ich denke, dass ich alles von ihm hatte und nun nichts mehr von ihm haben werde, es sei denn, mir gelingt es, ihm irgendwie begreiflich zu machen, was gestern Abend und all die anderen Abende davor mit Toby geschehen ist. Aber wie? Ich hab heute Morgen schon zwei Nachrichten auf seinem Handy hinterlassen und sogar ein Mal bei den Fontaines zu Haus angerufen. Das lief so ab:
    Lennie (in ihren Flip-Flops zitternd): Ist Joe da?
    Marcus: Wow, Lennie, was für’n Schocker … mutiges Mädchen.
    Lennie (guckt runter und sieht scharlachroten Buchstaben auf ihrem T-Shirt): Ist er da?
    Marcus: Nee, ist früh gegangen.
    Marcus und Lennie: peinliches Schweigen.
    Marcus: Er nimmt das ziemlich schwer. Hab ihn noch nie
so fertig gesehen wegen eines Mädchens, eigentlich auch nicht wegen sonst was …
    Lennie (den Tränen nahe): Sagst du ihm, dass ich angerufen habe?
    Marcus: Mach ich.
    Marcus und Lennie: peinliches Schweigen.
    Marcus (vorsichtig): Lennie, wenn du ihn magst, also, dann gib nicht auf.
    Freizeichen.
    Und das ist das Problem, ich mag ihn wahnsinnig. Ich setze einen Notruf an Sarah ab, sie soll während meiner Schicht ins Deli kommen.
     
    Zen in der Kunst der Lasagneherstellung, so läuft das bei mir normalerweise. Nach dreieinhalb Sommern, vier Schichten pro Woche, acht Lasagnen pro Schicht: 896 Lasagnen bis dato – hab ich ausgerechnet – hab ich das drauf. Ist Meditation für mich. Mit der Geduld und Präzision eines Chirurgen löse ich eine Nudelplatte nach der anderen von dem klebrigen Batzen aus dem Kühlschrank. Ich tauche die Hände in den Ricotta und die Kräuter und schlage die Mischung, bis sie leicht wie eine Wolke ist. Den Käse schneide ich hauchdünn und würze die Soße, bis sie singt. Und dann schichte ich alles zu einem Berg der Vollkommenheit auf. Meine Lasagne ist ein Gedicht. Aber heute singt meine Lasagne nicht. Erst hacke ich mir beinahe den Finger mit dem Gemüsehobel ab, dann fällt der klebrige Batzen Nudeln auf den Fußboden und die neue Portion kocht zu lange, daraufhin plumpst mir eine Lkw-Ladung Salz in die Nudelsoße.
Maria gibt mir den Idiotenjob und lässt mich mit einem stumpfen Gegenstand Cannelloni stopfen, während sie an meiner Seite die Lasagne zubereitet. Ich stecke in der Klemme. Für Kunden ist es noch zu früh, also bin ich im National Enquirer gefangen – Maria ist die Stadtschreierin, nonstop plappert sie über das liederliche und lüsterne Treiben in Clover, selbstverständlich inklusive der arboritären Eskapaden vom Romeo dieser Stadt, meinem Onkel Big.
    »Wie geht’s ihm denn so?«
    »Weißt du doch.«
    »Alle fragen nach ihm. Früher hat er jeden Abend im Saloon vorbeigeschaut, wenn er aus den Wipfeln zur Erde zurückgekehrt ist.« Maria rührt neben mir einen Bottich Soße wie eine Hexe vor ihrem Kessel, derweil versuche ich zu vertuschen, dass ich noch eine Nudelröhre zerbrochen habe. Ich bin ein liebeskrankes Nervenbündel mit einer toten Schwester. »Ohne ihn ist der Laden nicht mehr das, was er mal war. Kommt er zurecht?« Maria dreht sich zu mir, wischt sich eine dunkle Lockensträhne von der feuchten Stirn und bemerkt irritiert den wachsenden Haufen zerbrochener Cannellonihülsen.
    »Es geht ihm gut, wie uns allen«, sag ich. »Er kommt nach der Arbeit gleich nach Hause.« Ich sage nicht: und raucht drei Schüsseln Gras, um den Schmerz zu betäuben . Ich lasse die Tür nicht aus den Augen und stelle mir vor, wie Joe hereinsegelt.
    »Ich hab gehört, er hatte kürzlich Besuch in der Krone«, säuselt Maria und widmet sich wieder anderer Leute Angelegenheiten.

    »Kann nicht sein«, sage ich und weiß sehr wohl, dass sie damit höchstwahrscheinlich recht hat.
    »Doch. Dorothy Rodriguez, die kennst du doch, oder? Sie unterrichtet die zweite Klasse. Gestern Abend hab ich an der Bar gehört, dass sie mit ihm

Weitere Kostenlose Bücher