Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Wanderschaft zu führen, als ich ein Jahr alt war, wurde ich angeguckt, als wollte man mich irgendwo in einer schönen Gummizelle unterbringen. Trotzdem hatte ich dieses Walkerevangelium nie für so unwahrscheinlich gehalten. Jeder, der schon mal einen Roman gelesen hat, die Straße runtergegangen oder durch unsere Haustür gekommen ist, weiß, dass Leute auf alle möglichen Arten seltsam sein können, besonders meine Leute, denke ich mit einem Blick hinüber zu Big, der Gott weiß was in Bäumen treibt, andauernd heiratet, versucht, tote Käfer wieder zum Leben zu erwecken, mehr Hasch raucht als die ganze elfte Klasse und aussieht, als sollte er über ein Königreich im Märchen herrschen. Warum sollte seine Schwester also keine Abenteuerin sein, kein unbeschwerter Geist? Warum sollte meine Mutter nicht so sein wie die Helden in so vielen Geschichten, die Mutige, die in die Welt hinauszieht? Wie Luke Skywalker, Gulliver, Captain Kirk, Don Quixote, Odysseus. Okay, die kommen mir nicht besonders echt vor, sondern mythisch und magisch, durchaus zu vergleichen jedoch mit meinen Lieblingsheiligen oder den Charakteren in Romanen, an die ich mich möglicherweise ein bisschen zu fest klammere.
»Ich weiß nicht«, antworte ich ehrlich. »Ist das alles Kacke?«
Lange Zeit sagt Big nichts, zwirbelt nur nachdenklich den Schnurrbart und denkt. »Nee, das hat was mit Etikettierung zu tun, wenn du weißt, was ich meine?« Weiß ich nicht, aber ich will nicht unterbrechen. »Vieles liegt ja in der Familie, nicht? Und diese Tendenz, was das auch sein mag und
aus welchem Grund auch immer, liegt in unserer. Hätte schlimmer kommen können, wir hätten auch Depressionen, Alkoholismus oder Bitterkeit haben können. Unsere betroffenen Verwandten hauen einfach nur ab -«
»Ich glaub, Bailey hatte es, Big«, sage ich, die Wörter sind raus, ehe ich sie wieder einfangen kann, und offenbaren, wie sehr ich trotz allem tatsächlich daran glaube. »Das hab ich immer gedacht.«
»Bailey?« Er zieht die Stirn kraus. »Nee, das seh ich nicht. Ehrlich gesagt, ein so erleichtertes Mädchen wie damals, als sie von dieser Schule in New York abgelehnt wurde, ist mir noch nicht untergekommen.«
»Erleichtert?« Das ist jetzt aber wirklich ein Haufen Kacke! »Machst du Witze? Sie wollte immer auf die Juilliard. Sie hat soooooooooooooooooooooo hart dafür gearbeitet. Das war ihr Traum!«
Big mustert mein heißes Gesicht, dann sagt er sanft. »Wessen Traum, Len?« Er hält die Hände so, als würde er eine unsichtbare Klarinette spielen. »Denn die Einzige, die ich hier immer sooooooooooooooooooooooo hart arbeiten sehen hab, warst du.«
Gott.
Marguerites Trällern kommt mir wieder in den Kopf: Du spielst hinreißend. Arbeite an deinen Nerven, Lennie, dann schaffst du es auf die Juilliard.
Stattdessen hab ich alles hingeschmissen.
Stattdessen hab ich mich zusammengequetscht, in eine Kiste gesperrt und zu einem Springteufel gemacht.
»Komm mal her.« Big streckt den Arm wie einen riesigen
Flügel und schlägt ihn um mich, während ich mich an ihn schmiege und versuche, nicht daran zu denken, welche Heidenangst ich jedes Mal hatte, wenn Marguerite Juilliard erwähnt hat, jedes Mal, wenn ich mir vorstellte, wie ich -
»Träume ändern sich«, sagt Big. »Ich glaube mit ihren war das so.«
Träume ändern sich, ja, das leuchtet ein, aber ich hab nicht gewusst, dass sie sich auch in einem Menschen verstecken können.
Er schlingt auch den anderen Arm um mich und ich lasse mich in sein Bärsein fallen, atme den starken Geruch von Pot ein, der seine Kleider durchdringt. Er drückt mich ganz fest, streicht mit seiner riesigen Hand über mein Haar. Ich hatte vergessen, wie behaglich Big ist, ein Ofen in Menschengestalt. Ich gucke hoch in sein Gesicht. Eine Träne läuft ihm die Wange runter.
Nach ein paar Minuten sagt er: »Bailey hatte vielleicht ein paar Hummeln im Hintern, wie die meisten Leute, aber ich glaube, sie war mehr so wie ich – oder du in letzter Zeit – eine Sklavin der Liebe .« Er lächelt mich an, als ob er mich in einen Geheimbund einführen wollte. »Vielleicht liegt es an diesen verdammten Rosen, und fürs Protokoll: An die glaube ich voll und ganz. Die sind tödlich fürs Herz, ich schwöre dir, wir sind wie Laborratten, die diesen Duft die ganze Saison lang einatmen …« Er zwirbelt den Schnurrbart und scheint vergessen zu haben, was er sagen wollte. Ich warte, erinnere mich daran, dass er bekifft ist. Wie ein Band durchzieht
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