Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Aber ich habe noch einen anderen Verdacht. In einer der hintersten, unzugänglichsten Ecken meines Kopfes steht eine Kommode, und ganz hinten, in die allerunterste Schublade gestopft, ist ein Gedanke. Ich weiß, er ist da, denn ich hab ihn dort abgelegt, wo ich ihn nicht ansehen muss. Aber heute Nacht ziehe ich diese knarrende Schublade auf und stelle mich dem, was ich immer geglaubt habe – und das ist: Bailey hatte es auch. Rastlosigkeit trampelte durch das ganze Leben meiner Schwester, sie war der Motor für alles, was Bailey getan hat, vom Waldlauf bis zum Rollenwechsel auf der Bühne. Ich hatte immer gedacht, das wäre der Grund gewesen, der hinter ihrer Suche nach unserer Mutter steckte. Und ich weiß, dass ich deshalb nicht wollte, dass sie es machte. Ich wette, deshalb hat sie mir nicht erzählt, dass sie auf diese Art nach Mom fahndete. Sie wusste, ich würde versuchen, sie aufzuhalten. Ich wollte nicht, dass unsere Mutter Bailey einen Weg aus unserem Leben heraus zeigte.
Ein Forschungsreisender pro Familie reicht.
Aber jetzt kann ich das wiedergutmachen, indem ich Mom finde. Ich gebe eine Kombination nach der anderen in verschiedene Suchmaschinen ein. Doch nach einer Stunde würde ich den Computer am liebsten aus dem Fenster schmeißen. Es ist sinnlos. Ich bin bis ans Ende von Baileys Heft vorgedrungen und hab selbst eines angefangen, in dem ich eigene Worte und Symbole aus den Gedichten Blakes verwende. In Baileys Heft kann ich sehen, dass sie Moms
Kiste systematisch nach Hinweisen auf das Pseudonym durchsucht hat. Sie hatte Verweise auf Oliver Twist , Siddhartha , Unterwegs benutzt, war aber noch nicht bis zu William Blake gekommen. Seine Gedichte liegen aufgeschlagen vor mir und ich kombiniere Wörter wie Tiger, Giftbaum oder Teufel mit Paige oder Walker und den Begriffen Koch, Küche, Restaurant, weil ich wie Grama glaube, dass sie so auf Reisen ihr Geld verdient hat. Aber es nützt nichts. Nach einer weiteren Stunde ohne Treffer sage ich der Bailey auf dem Berg in dem Forschungsreisendenbild, dass ich nicht aufgebe. Ich brauche nur eine Pause, und ich gehe nach unten und schaue nach, ob noch jemand wach ist.
Big ist auf der Veranda, er sitzt auf der kleinen Bank wie auf einem Thron. Ich quetsche mich neben ihn.
»Nicht zu fassen«, murmelt er und kneift mir ins Knie. »Kann mich gar nicht mehr erinnern, wann du dich das letzte Mal zu einem nächtlichen Schwatz zu mir gesetzt hast. Ich überlege gerade, ob ich morgen nicht blaumachen soll. Mal gucken, ob diese neue Freundin, die ich da habe, mit mir im Restaurant Mittag essen geht. Ich hab es satt, in Bäumen zu essen.« Er zwirbelt seinen Schnurrbart ein wenig zu verträumt.
Uh-oh.
»Denk dran«, warne ich. »Bevor du nicht ein ganzes Jahr mit ihr zusammen gewesen bist, darfst du keine bitten, dich zu heiraten. Diese Regel hast du selbst nach deiner letzten Scheidung aufgestellt.« Ich ziehe ihn am Schnurbart und, um das noch zu unterstreichen, füge ich hinzu: »Deiner fünften Scheidung.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagt er. »Aber, Jungejunge, mir fehlen diese Anträge, es gibt nichts Romantischeres. Solltest du unbedingt versuchen, wenigstens ein Mal, Len – das ist wie Fallschirmspringen mit den Füßen am Boden.« Er lacht auf eine klingelnde Art, die man wohl Kichern nennen könnte, wenn er nicht zehn Meter lang wäre. Das hat er Bailey und mir ständig erzählt. Bevor Sarah in der sechsten Klasse eine Brandrede über die Ungerechtigkeiten der Ehe gehalten hatte, war mir offen gestanden gar nicht klar gewesen, dass Heiratsanträge nicht immer auf Chancengleichheit beruhten.
Ich schaue über den kleinen Garten hinweg, in dem Joe mich vor ein paar Stunden verlassen hat, wahrscheinlich für immer. Kurz denke ich daran, Big zu erzählen, dass Joe wahrscheinlich nicht mehr kommen wird, aber dann ertrag ich es nicht, ihm das zu eröffnen. Er hängt beinahe so sehr an ihm wie ich. Und überhaupt, ich will mit ihm über etwas anderes reden.
»Big?«
»Hmmm?«
»Glaubst du wirklich an dieses Zeug mit dem Rastlosigkeits-Gen?«
Überrascht guckt er mich an, dann sagt er: »Klingt nach einem schönen Haufen Kacke, was?«
Mir fällt ein, wie ungläubig Joe darauf heute im Wald reagiert hat, ich denke an meine eigenen Zweifel und an die aller anderen … immer. Wenn ich mal jemandem in dieser Stadt, in der Freigeist zu sein ein grundlegender Familienwert ist, erzählt habe, dass meine Mutter losgezogen ist, um
ein Leben in Freiheit und
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