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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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ich allein. Glaube ich zumindest, bis ich zum Haus schaue und Grama in der Tür stehen sehe, wie Toby gestern Abend. Ich weiß nicht, wie lange sie schon da gestanden hat, ich weiß nicht, was sie gesehen hat und was nicht. Sie macht die Tür ganz auf, geht auf die Veranda hinaus und stützt sich mit beiden Händen aufs Geländer.
    »Komm rein, kleine Wicke.«
    Ich erzähl ihr nicht, was mit Joe los war, ebenso wenig wie ich ihr je erzählt habe, was mit Toby gelaufen ist. Und doch verrät mir ein Blick in ihre kummervollen Augen, dass sie wahrscheinlich schon alles weiß.
    »Eines Tages wirst du wieder mit mir reden.« Sie nimmt meine Hände. »Du fehlst mir, weißt du. Und Big auch.«
    »Sie war schwanger«, flüstere ich.
    Grama nickt.
    »Hat sie es dir erzählt?«
    »Die Autopsie.«
    »Sie waren verlobt«, sage ich. Das, verrät mir ihr Gesicht, hat sie nicht gewusst.
    Sie schließt mich in die Arme. Gut beschützt bleibe ich in ihrer Umarmung und lasse die Tränen kommen und laufen und laufen, bis ihr Kleid ganz nass ist und die Nacht das Haus erfüllt.

25. Kapitel
    ICH GEHE NICHT zum Schreibtischaltar, um mit Bailey auf dem Gipfel des Berges zu sprechen. Ich mache nicht mal das Licht an. Mit allen meinen Kleidern gehe ich sofort ins Bett und bete um Schlaf. Der kommt nicht.
    Was kommt, ist Scham, Wochen von Scham, in Wellen, die mich durchzucken wie Übelkeit, sodass ich in mein Kissen stöhnen muss. Die Lügen und Halbwahrheiten und Kurzfassungen, die ich Joe erzählt und verschwiegen habe, packen mich und drücken mich nieder, bis ich kaum noch atmen kann. Wie konnte ich ihn so verletzen? Wie konnte ich ihm genau dasselbe antun wie Geneviève? All die Liebe, die ich für ihn habe, rumort in meinem Körper herum. Meine Brust tut weh. Alles tut mir weh. Er hat ausgesehen wie ein ganz anderer Mensch. Er ist ein anderer Mensch. Nicht der, der mich geliebt hat.
    Ich sehe Joes Gesicht vor mir, dann Baileys, mit je vier Worten auf den Lippen schweben beide über mir: Wie konntest du nur?
    Darauf habe ich keine Antwort.

    Es tut mir leid , schreibe ich immer wieder mit dem Finger auf die Laken, bis ich es nicht mehr aushalten kann und das Licht anknipse.
    Aber das Licht bringt echte Übelkeit und all die Augenblicke mit meiner Schwester, die jetzt ungelebt bleiben werden: ihr Baby in meinen Armen. Ihrem Kind Klarinette spielen beibringen. Einfach Tag für Tag gemeinsam älter werden. Die ganze Zukunft, die wir nicht haben werden, bricht aus mir heraus und über den Mülleimer gekauert huste und würge ich sie raus, bis nichts mehr da ist, nichts, nur ich in diesem scheußlichen orangefarbenen Zimmer.
    Und da trifft es mich wie ein Schlag.
    Ohne die Ruhe und das Chaos in Tobys Armen und die herrliche Zerstreuung in Joes gibt es nur mich.
    Mich, wie eine kleine Muschel, in der die Einsamkeit des ganzen Ozeans tost.
    Ich.
    Ohne.
    Bailey.
    Für immer.
    Ich werfe meinen Kopf in mein Kissen und schreie hinein, als würde mir die Seele mittendurch gerissen werden, denn so ist es.

    (Gefunden auf einem Pappbecher, Rain River)
(Gefunden auf dem Ast eines Baumes vor der Clover High)
(Gefunden auf einen Tisch geschrieben, Leihbücherei Clover)

Teil zwei

    (Gefunden auf einem Papier zwischen zwei Felsen am Flying Man’s)

26. Kapitel
    SPÄTER WACHE ICH mit dem Gesicht ins Kissen gequetscht auf. Auf die Ellenbogen gestützt gucke ich aus dem Fenster. Die Sterne haben den schwarzen Nachthimmel verzaubert. Es ist eine glänzende Nacht. Ich mache das Fenster auf und das Murmeln des Flusses wird von der rosenduftenden Brise bis in unser Zimmer getragen. Mir geht es besser, als ich das begreife, ist es wie ein Schock, ich scheine mich bis zu einem Ort vorgeschlafen zu haben, an dem es etwas mehr Luft gibt. Gedanken an Joe und Toby schiebe ich von mir, atme noch einmal tief die Blumen, den Fluss, die Welt ein, dann stehe ich auf, bringe den Mülleimer ins Bad und mache ihn und mich sauber. Dann gehe ich sofort an Baileys Schreibtisch.
    Ich schalte den Computer ein, hole das Heft aus der obersten Schublade, in der ich es jetzt aufbewahre, und beschließe, dort weiterzumachen, wo ich neulich aufgehört habe. Ich muss was für meine Schwester tun und mir fällt nichts anderes ein, als unsere Mutter für sie zu suchen.
    Ich fange an, die restlichen Kombinationen aus Baileys
Heft einzugeben. Ich kann verstehen, warum selber Mutter zu werden Bailey dazu veranlasst hat, auf diese Weise nach Mom zu suchen. Irgendwie leuchtet mir das ein.

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