Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
war sie von Irmas Operation unterrichtet worden; jede Transplantation sprach sich in der Dialyseabteilung herum, und es wurde jedesmal gerechnet, verglichen, wer schon länger wartete, wer größeres Glück gehabt hatte –
    Glück
– nicht daran denken, sagte sich Irma und dachte an nichts anderes: Wie alt der Tote wohl. Wo er denn. Ob er schon.
    Es war heiß im Zimmer. Die Fenster ließen sich lediglich kippen. Aus Sicherheitsgründen durften die Balkone nicht betreten werden. Draußen, auf dem achtspurigen Gürtel, standen die Autos im Stau.
    Zweieinhalb Jahre hatte Irma nicht mehr als einen halben Liter Flüssigkeit pro Tag zu sich nehmen dürfen. Im Sommer war es schlimm gewesen. Manchmal hatte sie ihre Wohnung nicht verlassen, weil ihr dieses Geräusch von in Gläsern klirrenden Eiswürfeln unerträglich geworden war, ebenso wie der Anblick der Brunnen, Sprühanlagen und Plakate, die für Mineralwasser warben. War sie ins Innere eines Lokals geflüchtet,hatte der Besitzer gewiß eine Vorliebe für Zimmerspringbrunnen mit im Wasser laufenden Kugeln, Verneblern oder angeleuchteten, transparenten Mineralien gehabt.
    Irma leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Sie konnte jetzt wieder trinken; fast hatte sie es vergessen. Als sie aus dem Bett stieg, um ins Badezimmer zu gehen, mußte sie nicht mehr darauf achten, daß sich die Kanülen des Katheters, der Drainage- und Infusionsbeutel beim Aufstehen nicht verhedderten. Sie war davon befreit worden, war sogar imstande, wackelig und ein wenig nach Atem ringend, bis zum Aufenthaltsraum vorzugehen. Die Zimmertür, die sie immer erwartungsvoll angeschaut hatte, konnte sie nun selber öffnen, und hinter dieser Tür war ein Gang mit weiteren Türen, durch die sie wie durch ein Wunder in andere Zimmer gelangen konnte oder in ein Treppenhaus mit Aufzügen, die in die unteren Stockwerke führten, immer weiter in die Tiefe, bis auf die Straße. Sie mußte sich nicht mehr mit diesem Blick nach draußen zufriedengeben, sie kam jetzt selbst Tag für Tag dieser Welt außerhalb ihres Zimmers näher, von der sie in den ersten Stunden nach der Operation geglaubt hatte, sie würde sie nicht mehr erreichen. Irma erinnerte sich noch an die ersten Schritte, diese langsamen Bewegungen, halben Drehungen, wie sie an der Wand entlang ins Bad gegangen war, den Gürtel des Kimonos hinter sich herziehend, bis ihn die Krankenschwester, die ihr für den Fall, daß ihr schlecht würde, gefolgt war, ihn vom Boden aufgehoben und in Irmas Seitentasche gesteckt hatte.
    Es klopfte an der Tür. Vielleicht ist es Marianne, dachte Irma, vielleicht kommt sie jetzt, nach ihrer Dialyse, auf einen Sprung vorbei.
    Â«Haben Sie kurz Zeit?» fragte der Arzt.
    Irma hielt den Kopf gesenkt; sie war gute zwanzig Zentimeter größer als der junge Assistenzarzt. Lauren Bacall fiel ihr ein, wie sie den kleinen Humphrey Bogart von unten angesehenhatte – dieser devote Blick, der gar nicht devot war. Die Bacall hatte so sehr vor den Filmaufnahmen gezittert, daß der Kameramann mit dem Drehen aufhören mußte. Irgendwann war sie draufgekommen, daß sie sich weniger fürchtete, wenn sie den Kopf senkte. Dieser Blick machte dann Furore.
    Aber ich fürcht’ mich doch nicht.
    Â«Wir haben seit gestern stabilere Werte», hörte Irma den Arzt sagen.
    Â«Wie bitte?»
    Â«Stabilere Werte», sagte der Arzt.
    Am Nachmittag war das Geräusch eines Hubschraubers zu hören, der auf dem Dach der Klinik landete. Vielleicht haben sie auch meinen Toten so ins Krankenhaus gebracht, dachte Irma. Sie hatte den jungen Arzt auf ihren Spender angesprochen, aber nichts über dessen Identität in Erfahrung bringen können. «Wir sind verpflichtet, die Anonymität zu wahren», hatte der Assistenzarzt gesagt und weggeschaut. Irma waren seine Augen so starr erschienen wie Gefangene im eigenen Gesicht.
    Es war heiß; die Matratze war sogar im Sommer mit blauem Nylon überzogen; Sparmaßnahmen, die als Hygienemaßnahmen bezeichnet wurden. Das Leintuch klebte am Rücken, der Schweiß rann im Ausschnitt zusammen. Irma schlüpfte in den Kimono und ging nach draußen. Vielleicht trifft es dieses Mal Marianne, dachte sie und schaute zum Fenster hinaus. Die Propeller des Hubschraubers auf dem gegenüberliegenden Dach hatten aufgehört zu rotieren.
    Wenn Irma die Augen ein wenig

Weitere Kostenlose Bücher