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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mich nicht zu Vittorio ins Wohnzimmer setzen wollte. Als ich das Besteck aus der Lade nahm, entdeckte ich überall Brösel. Vittorio hatte die Angewohnheit, das Brot über der herausgezogenen Lade durchzuschneiden. Das Besteck in der einen Hand, den Putzlappen in der anderen, fiel mein Blick auf die Türklinke. Ich legte Gabeln, Messer und Löffel zurück, warf den Lappen in die Spüle und holte das Telephonbuch aus dem Vorzimmer.
    Kein Rino Lucchi. Auch kein Rinaldo. Vielleicht war er gar nicht der Neffe von Herrn Lucchi. Gab es keinen Nachwuchs in der Familie, wurden zuweilen auch die Töchter und Söhne von guten Freunden als
Nichten
und
Neffen
bezeichnet. Ich konnte mich nicht erinnern, daß Lucchi in den letzten Monaten viel Besuch gehabt hätte. Kinder schien er keine zu haben, oder sie kümmerten sich nicht um ihn. Manchmal kam eine gepflegte ältere Dame, die jedoch nie lange blieb. Marta hatte von Lucchi erfahren, daß die beiden dieselbe Schule besucht hatten. Später habe die Frau seinen Hausarzt geheiratet – eine gute Partie.
    Â«Was suchst du?» Vittorio stellte die leere Wasserflasche ab.
    Â«Nichts Wichtiges.»
    Â«Du antwortest mir nicht.»
    Â«Es ist nichts. Nichts, das dich interessieren könnte.» Ich klappte das Telephonbuch zu und trat zum Kühlschrank. «Ich hab’ nachgesehen, ob Lucchi Verwandte hat.»
    Â«Du engagierst dich zu sehr», sagte Vittorio. Er legte die Hand auf meine Schulter. Ich wollte sie abschütteln, entzog mich schließlich seiner Berührung, indem ich in die Hocke ging, um aus dem untersten Fach des Kühlschranks eine Dose Bier herauszunehmen.
    Â«Wer war das vorhin?»
    Â«Keine Ahnung. Gab sich nicht zu erkennen. Ist übrigens nicht das erste Mal.» Ich schaute Vittorio an; er war zerstreut, griff nach dem Bier in meiner Hand, das nicht für ihn bestimmt war. Als er es bemerkte, stellte er die Dose auf die Anrichte, meinte, er müsse seinen Kopf auslüften, gehe einmal um den Häuserblock, wäre gleich wieder zurück.
    Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, beschloß ich, ihm zu folgen. Ich wartete kurz, bis ich die Wohnungstür öffnete. Im Treppenhaus war es ruhig; ich hörte nur seine Schritte. Er hatte es eilig. Wenn nur die Nachbarin nicht aus ihrer Wohnung kommt und laut grüßt, dachte ich.
    Vittorio lief um den Block, überquerte dann aber die Straße, um zu telephonieren. Ich blieb hinter einem geparkten Jeep in Deckung und versuchte an seiner Mimik abzulesen, welcher Art das Gespräch war, doch die vorbeifahrenden Autos versperrten immer wieder die Sicht. Vittorio schien wütend zu sein, da er mehrmals mit der flachen Hand gegen den Telephonapparat schlug, dann lächelte er. Er wirkte verlegen.
    Als der Blumenhändler die Rolläden seines Ladens herunterzuziehen begann, machte ich kehrt. Es war mir peinlich, in gebückter Haltung vor dem Geschäft zu stehen. Außerdem fürchtete ich, das laute Rattern könnte Vittorios Aufmerksamkeit auf meine Straßenseite lenken.
    Solange ich in seinem Blickfeld war, verbarg ich mich hinter den am Straßenrand stehenden Autos, dann wählte ich eine Abkürzung durch die Innenhöfe. Auf dem Weg zu unserer Wohnung fragte ich mich, warum Vittorio ein öffentliches Telephon benützte. Ich wollte ihn zur Rede stellen, schämte mich aber, sein Vertrauen mißbraucht zu haben. Vittorio sollte mir nicht vorwerfen, daß ich ihm nachspioniere. Dennoch griff ich, als ich an der Garderobe vorbeiging, in die Taschen seines Sakkos; sie enthielten mehrere entwertete Busfahrkarten und zwei gebrauchte Papiertaschentücher.
    Man weiß nie genau, wann eine Liebe aufhört, dachte ich später, als ich mich aus dem Fenster beugte, um nach Vittorio Ausschau zu halten, aber man spürt, wenn einer anfängt, das Ende an sich heranzulassen.
    Auf dem Balkon vor der Küche gurrte eine Taube; ich klatschte in die Hände, weil ich nicht wollte, daß sie die nasse Wäsche verdreckte. Anstatt wegzufliegen, plusterte sie sich auf. Der Schnabel war weit aufgerissen.
    Ich ging noch einmal zur Garderobe zurück, um an den Papiertaschentüchern zu riechen.
    Â«Warum machst du das», hörte ich ihn sagen, obwohl er gar nicht in der Wohnung war. Ich lehnte mich gegen die Wand, merkte, wie ich schwitzte. Es bedurfte nur eines Wortes, dachte ich,
Aus
oder
Vorbei
, und alles war zerstört.

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