Über Nacht - Roman
zusammenkniff, sahen die Dächer der Häuser wie abgemähte Felder aus, von Gräben zerfurcht, ausgedörrtes Niemandsland. Irma lehnte sich gegen den Mauervorsprung unter dem Fenster. Der Stoff des Kimonos hatte den Schweià aufgesogen, er fühlte sich kühl an. Dasleichte Zittern machte ihr jetzt angst; sie sah sich nach einem Stuhl um, setzte sich.
«Alles okay, Frau Svetly?» fragte der vorbeigehende Pfleger und zwinkerte ihr zu. Irma nickte, obwohl sie mit der einen Hand die andere umklammert hielt.
Eine ältere Frau verlieà das Zimmer, schaute zu Boden, als suchte sie nach etwas. Sie trug ein Nachthemd, das hinten von zwei Bändern zusammengehalten wurde und nicht einmal bis zu den Knien reichte. Wenn die Frau sich bewegte, fiel der dünne Baumwollstoff auseinander und gab den Blick auf den Hintern frei. Der Pfleger trat hinter die Frau, versuchte den Stoff zusammenzuhalten, die Frau dazu zu bewegen, in ihr Zimmer zurückzukehren. Doch sie wollte nichts hören und schlug mit der Hand nach hinten. Dieses Bild, dachte Irma, ich will es nicht vergessen.
Auf dem Fenstersims, direkt vor ihr, stand eine Blumenvase mit mehreren Rosen; die meisten lieÃen den Kopf hängen.
Noch immer zitterten Irmas Hände. Sie versuchte sich abzulenken, schaute zu der bemalten Vase, dachte an ihren Körper, an dieses Gefäà von Gewohnheiten, das ihr mit einem Mal alles andere als ureigen, als unveräuÃerlich erschien. Das sind Kinderlinien, dachte Irma und drehte die Vase. Sie versuchte die hängenden Blütenköpfe aufzurichten, indem sie sie an einen frischen Rosenstengel lehnte.
Als sich die Hände wieder beruhigt hatten, ging sie zurück in ihr Badezimmer, drückte den Hebel für die flüssige Seife, einmal, zweimal. Sie betrachtete sich im Spiegel und vergaÃ, was sie gerade tat. Drückte. Schaute. Wohin ich auch gehe, ich komme über meinen Körper nicht hinaus. Drückte wieder und wieder. Komm und komm nicht hinaus, dachte Irma. Die klebrige, rötliche Flüssigkeit rann durch ihre Finger. Noch immer musterte sie ihr Gesicht. Die Wangen sind dicker geworden. Bildâ ich mir das nur ein.
V
Vittorio saà auf dem Sofa und hielt die Fernbedienung in der Hand, obwohl er nicht zappte. Er fixierte den Bildschirm, schien aber unbeteiligt. Die Frage, woran er im Augenblick denke, stellte ich ihm nicht, zu prompt hatte er die letzten Male geantwortet: «An die Arbeit», «An meine Mutter» â war weiteren Fragen ausgewichen. Auf dem Tisch lagen zwei Photos; das eine zeigte ein Sesselmodell von Charles & Ray Eames. Sitzschale und Rückenlehne waren mit Fell bezogen, doch die elastischen Gummischeiben, die den Ãberzug am Rahmen befestigten, waren teilweise weggerissen, so daà sich das Fell auf der Sitzfläche wellte; auf dem anderen Bild waren blaue, rote und grüne aufeinandergestapelte Plastikstühle mit Aluminiumbeinen abgebildet.
Vittorio merkte nicht, daà ich ihn betrachtete. Ich lehnte am Türrahmen zum Vorzimmer und dachte an Carelli, der offen sagte, was ihn beschäftigte, auch wenn man es gar nicht wissen wollte. Rücksicht nehmen, hatte mir Carelli einmal erklärt, sei etwas für Leute, die noch unterwegs wären. Er sei längst angekommen. Warum solle er noch ein Blatt vor den Mund nehmen, wenn sich an seiner Lage ohnehin nichts mehr ändern lieÃe.
Als das Telephon klingelte, blieb Vittorio sitzen, er drehte nicht einmal den Kopf, um zu sehen, ob ich dranging. Der Anrufer legte auf, nachdem ich meinen Namen genannt hatte. Jemand muÃte von einem öffentlichen Telephon aus angerufen oder die eigene Nummer unterdrückt haben. Auf dem Display war nichts zu sehen gewesen.
«Erwartest du einen Anruf?»
Vittorio legte die Fernbedienung auf das Sofa und stand auf. «Nein.» Er folgte mir in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank und griff nach der halbvollen Mineralwasserflasche, die auf der Anrichte stand. «Warum stellst du sie nicht zurück in den Kühlschrank?» sagte er.
«
Du
hast sie doch hier stehen lassen.»
Er hielt den Flaschenhals zwischen zwei Fingern eingeklemmt und lieà die Plastikflasche vor seinem Bauch hin und her baumeln.
Ich ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür. «Hier, bitte. Da hast du eine neue.»
Wortlos verlieà er die Küche.
Obwohl ich müde war, beschloà ich, ein paar Schubladen sauberzumachen, weil ich
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