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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Fallschirmspringer ziellos in ihre Gedanken. Er konnte niemals landen. «Wir sind verpflichtet, die Anonymität zu wahren», hörte Irma den Assistenzarzt sagen. Vorstellungen kennen keine Diskretion, dachte Irma. Die Phantasie sorgt dafür, daß das Punkteraster nicht mehr hinter dem Bild durchscheint. Man muß nur weit genug von der Wirklichkeit entfernt sein.
    Der Fallschirmspringer: ich unterstelle ihm, was mich selber beruhigt, er stürzt auf meine Sätze,
las Irma in ihrem Heft.
    Sie stand auf, als das Telephon klingelte. War es Frau Curci, Rinos Mutter? Hatte sie einen Apparat, der die Anrufernummern speicherte? War sie neugierig geworden, wer aus dem Ausland angerufen hatte?
    Es war Davide. Irma verstand kein Wort, er verhaspelte sich, unterbrach sich, setzte an einer anderen Stelle ein. Richard sei nicht zu Hause gewesen, soviel hatte Irma gleich zu Beginn des Telephonats begriffen.
    Â«Ich habe ihn angelogen. Ich habe zu ihm gesagt, ich käme erst morgen nach Wien.» Davide schluchzte. «Bleibt einfach liegen, dieser Arsch. Es ist nicht zu fassen.»
    Irma verstand noch immer nichts. Sie machte ihr Heft zu, verstaute es in der Lade. Gleich würden die Eltern kommen und Florian zurückbringen.
    Â«Diese Unverfrorenheit. Er ist so rücksichtslos.» Nach und nach ergaben die einzelnen Sätze, die Vorwürfe und Beschimpfungen einen Zusammenhang. Der Unbekannte in Richards Bett hieß Alexander; Davide kannte ihn von einem einzigen Abendessen. «Er ist ein Freund von Richards Arbeitskollegin», sagte er leise, als fürchtete er, jemand könnte mithören.
    Â«Warum liegt der mittags noch im Bett?» fragte Irma.
    Â«Der konnte nicht raus, verstehst du, der hatte Angst, seiner Frau über den Weg zu laufen. Oder seinen Kindern, was weiß ich. Wahrscheinlich hat er zu ihnen gesagt, er wäre nicht in Wien.»
    Â«Hast du ihn rausgeworfen?»
    Â«Das war nicht nötig, der war sofort weg», sagte Davide und begann wieder zu weinen. «Ich bin ja selber schuld.»
    Â«Blödsinn», sagte Irma.
    Â«Ich hab’ zweimal gebucht und das Ticket für morgen absichtlich herumliegen lassen, bevor wir abgeflogen sind. Dein Bruder war sich seiner Sache so sicher.» Davide putzte sich die Nase. «Du hättest ihn sehen sollen, diese Parodie eines Naturburschen. Der hat mindestens zehn Kilo zuviel.» Am meisten ärgerte Davide, daß sich die beiden
Cremona
von Mina angehört hatten. Richard habe die Hülle auf dem Tisch liegenlassen. «Jene Mina, über die er sich immer nur abfällig geäußert hat», sagte Davide.
    In seinem Zimmer hingen mehrere Porträts von Mina, die er aus Hochglanzmagazinen ausgeschnitten und anschließend gerahmt hatte. Richard fand die Aufnahmen von dem bekannten Mailänder Maler und Photographen Mauro Balletti übertrieben und geschmacklos. Davide, ein Bewunderer der Sängerin, die sich seit 1978 aus der italienischen Öffentlichkeitzurückgezogen hatte, bastelte seit Jahren an einer privaten Ikonengalerie und lobte Ballettis Maskierungen. Einmal zeigte er Mina auf den Hüllen ihrer Alben als bärtige Salome, ein anderes Mal war sie Duse, Domina oder Daisy Duck. Davide behauptete, daß Balletti das Kunstkitschterrain zugunsten der Kunst verlassen habe, während Richard, um Davide zu ärgern, von der
Puderzuckertante
sprach, die er nur seinetwegen ertragen würde.
    Irma stand auf, ging ins Schlafzimmer und klemmte den Koffer zwischen ihre Füße, damit er nicht wegrutschte. Dann zog sie mit einer Hand den Reißverschluß auf. Das Bilderbuch, das sie für Florian gekauft hatte, lag obenauf.
    Â«Was soll ich jetzt machen? Ich halte es hier keinen Tag mehr aus. Wenn ich bei euch wohne – vorübergehend, nur vorübergehend –», beeilte sich Davide zu sagen, «dann könntest du doch gelegentlich bei Friedrich übernachten.»
    Â«Vielleicht will ich das gar nicht», sagte Irma.
    Â«Du mußt ja nicht. Ich koche jeden Tag. Und ich hole Florian ab.»
    Â«Ich lass’ dich nicht hängen», sagte Irma.
    Auf dem Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses standen wieder mehrere Männer auf dem Steg, lehnten am verzinkten Geländer und rauchten. Davide schaute zwar zum Fenster raus, sagte aber kein Wort. Er hatte Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. Florian rollte den Koffer durch die Wohnung und weigerte sich, den Pyjama anzuziehen.

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