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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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dann fuhren sie zu Irma. Sie dachte die ganze Zeit darüber nach, wie sie Friedrich loswerden konnte, ohne ihn zu verletzen. In einer Stunde kamen die Eltern mit Florian, vorher wollte sie noch auspackenund duschen. Vielleicht auch Rino anrufen. Bei dem Gedanken spürte sie, wie sich ihr Bauch verkrampfte. Möglicherweise erinnert er sich gar nicht mehr an mich, dachte Irma. Drei Kinder von zwei Frauen. Vier Kinder von drei Frauen, korrigierte sie sich.
    Als Friedrich über die Aspernbrücke fuhr, legte er seine Hand auf Irmas Oberschenkel. «Gut siehst du aus», sagte er und blickte zu Irma hinüber. «Du willst jetzt sicher in Ruhe gelassen werden.»
    Es klingt wie eine Frage, dachte Irma. An den Fenstern des Galaxie-Gebäudes hingen noch immer Schilder.
Büros zu vermieten
, stand darauf. Seit das Hochhaus umgebaut worden war, hatten sich nur wenige neue Mieter gefunden. Auch nachts war der Turm meistens dunkel.
    Â«Ich ruf ’dich am Abend an, wenn Florian im Bett ist», sagte Irma. Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, ärgerte sie sich über ihr Entgegenkommen.
    Â«Es kann sein, daß meine Eltern über Nacht bleiben, dann meld’ ich mich erst morgen», log Irma, hob die Tasche auf, die sie zwischen die Beine gestellt hatte, griff nach der Jacke auf dem Rücksitz. Sie mochte es nicht, wenn von vornherein alles feststand.
    Â«Nett von dir, daß du mich abgeholt hast», sagte Irma und stieg aus.
    Â«Nett?» Friedrich schüttelte den Kopf.
    Â«Das ist Erpressung», rief Irma am Straßenrand, zog lachend den Koffer vom Sitz, warf die Tür zu und winkte.
    Die Gepäckstücke landeten ungeöffnet im Schlafzimmer, die Jacke verfehlte den Garderobenhaken und fiel zu Boden. Irma setzte sich an den Schreibtisch und blätterte in ihrem Notizbuch.
Via del Babuino: Brunnenfigur ohne Gliedmaßen. Konturlose Körpermasse.
Sie las die Eintragungen über die Schausteller undSchnellzeichner auf der Piazza Navona, über die kopflosen Büsten in den Gärten der Villa Borghese, fand die Bezeichnung
lecci
für die Bäume vor der Stazione Termini. Als sie aufstand, um das Wörterbuch zu holen, fiel ihr Blick auf Rinos Photo am Strand von Ostuni. Ich ruf’ ihn jetzt an. Mitten im Zimmer blieb sie reglos stehen und hörte sich sprechen. Dann gab sie sich einen Ruck, holte das Telephon, wählte die Nummer, legte auf, bevor es klingeln konnte, drückte die Wiederholtaste, wartete, wollte wieder auflegen, dachte: Jetzt hast du schon zu lange gezögert.
    Â«Curci.»
    Irma kriegte kein Wort heraus.
    Â«Pronto.»
    Es war eine weibliche Stimme, schon etwas älter.
    Â«Wer ist da?»
    Am Flughafen von Rom war Irma noch schnell in eine Buchhandlung gegangen und hatte einen Blick in einen Reiseführer geworfen, um sich ein paar Sätze zurechtzulegen, mit denen sie Florian die Geburtsstadt seines Vaters schildern wollte. Sie erinnerte sich jetzt an die Abbildung des strahlend weißen Häuserkranzes, an die gekalkten Mauern und prächtigen Barockportale.
    Die Stimme am anderen Ende der Leitung wurde ungeduldig. Es ist Rinos Mutter, dachte Irma. Lucchi hatte von einer halbseitigen Lähmung gesprochen, davon, daß seine Schwester zwar langsam sprechen, daß sie aber nicht mehr beide Beine und beide Arme bewegen könne. Die Frau saß gewiß den ganzen Tag über im Haus, hatte neben sich das Telephon stehen. Vielleicht machte es ihr angst, daß jemand angerufen hatte, ohne sich zu melden. Jetzt ist es zu spät, dachte Irma, was soll ich noch sagen. Sie hörte den Atem der alten Frau, dieses neuerliche «Pronto», das Bereitschaft signalisierte, eine Bereitschaft, an der es Irma nie gefehlt hatte, doch jetzt, sonahe am Ziel, fürchtete sie sich vor falschen Worten. Wie sag’ ich es ihr nur, dachte Irma, aber noch ehe sie nach Rino fragen konnte, unterbrach die Frau die Verbindung.
    Irma räumte ihr Portemonnaie aus, legte die Rechnungen in die Lade, sammelte einzelne Notizzettel ein, die verstreut in Büchern und in den Seitenfächern der Tasche steckten. Auf einem Kassabon stand
Leben schreiben. Desillusionierung. Aussparung.
    Sie dachte an Sigmund Freud, der von der Vorstellung gequält worden war, seine Freunde könnten eine Biographie über ihn verfassen.
    Irma notierte. Ich mache es für Florian, sagte sie sich. Sie notierte gegen die Zeit. Wann immer sie in den Himmel sah, fiel der

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