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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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Aufbäumen, das vor dem Versinken kam. Und mitten in Bettys Tanz stand er auf, marschierte mit unerwartet festemSchritt auf sie zu und riss ihr die Blümchenborte ihres Oberteils herunter.
    Ich hatte noch nie eine so weiße Brust gesehen. Sie zitterte kurz in der Luft und kam dann zur Ruhe, gemeinsam mit der konsternierten Betty.
    »Zieh dir was an, du Tute«, sagte Zork, drehte sich um und zermalmte im Weggehen den Plastikbecher auf dem Beton. Mit lässig pendelndem Schritt marschierte er aus dem Auditorium, in Richtung der Empore, wo einst die viermanualige Orgel mit fünfundsechzig Registern stehen sollte. Seine Schultern rotierten; er klopfte seine Gesäßtaschen nach dem Tabaksbeutel ab. Noch im Gehen drehte er seine Zigarette.
    Ich ging hinunter zu Betty, nahm sie in den Arm. Ich spürte ihren dichten, wolligen Atem in der Achselhöhle. Und während Betty noch meine Lederjacke knetete und knüllte, dass sie quietschte, suchte mein Blick über ihren anthrazitfarbenen Schädelflaum hinweg nach Zork.
    Eine Polonäse schwankte an uns vorbei, angeführt von einer schnittlauchhaarigen Smiley-Frau; singend zog der Tross weiter die Zuschauerränge hinauf, mit Liedern, die Schmiddels Radioprogramm längst hinter sich gelassen hatten.
    Mir wurde klar, dass ich mit Betty allein war. Es war, als hätte ich einen kleinen Vogel gefunden, der aus dem Nest gefallen war. Ich war verantwortlich für ihn, nur weil ich die Erste war, die des Weges kam. Und ich wusste ja, dass es keine Rettung für so ein gefallenes Vögelchen gab; dass jede Berührung seine Lage verschlimmern würde.
    Und ich begann Betty, die sich jetzt im stillen Kampf mit meiner Lederjacke aufs Kratzen verlegt hatte, zu hassen. Ich hasstesie dafür, dass Zork sie schlecht behandelt hatte. Ich hasste sie dafür, dass sie mich zwang, nett zu ihr zu sein. Und ich konnte nur hoffen, dass niemand zusah.
    So stand ich mit Betty in unserer gemeinsamen Dunkelheit. Wir standen in der doppelten Dunkelheit ihrer Schande und meines Hasses. Die Dunkelheit schien Bettys Geruch noch zu verstärken; sie roch nach Gabba und nicht nach Gabba, wie Gabba, gefiltert durch Schichten von Trauer und Talg. Ich spürte Bettys Brüste an meinem Bauch. Es waren die Brüste, die Zork entblößt hatte, Brüste, die lebten. Es waren Brüste, die Gehirne hatten, Augen und Ohren, Zentralnervensysteme und Magen-Darm-Trakte. Und einen Moment lang konnte ich Zork verstehen.
    Seine verächtlichen Blicke, die meiner Lederjacke galten, meinen Vintage-Sneakers von Maldorada, meinen Autoschlüsseln, an denen längst kein Auto mehr hing, waren eine Beleidigung gewesen; jetzt waren sie eine Gefahr. Jetzt hatte ich die Verachtung in Aktion gesehen. Und jetzt wusste ich wirklich, wie Überlegenheit aussah.
    So wartete ich, Betty im Arm, auf die endgültige Nacht. Als es ganz dunkel geworden war, ließ ich Betty los und zog mich in den zwanzigsten Stock auf mein Lager zurück. Im Punktraster der Fenster fing sich der Abglanz der Hafenlichter.

17
    An einem bedeckten, schwülen Nachmittag spazierte ich mit Schmiddel, Chuck und Zebra über die Lange Reihe. Auf dem Carl-von-Ossietzky-Platz waren Bierstände aufgebaut; eine Ska-Band spielte »More Kisses Than You Can Take«. An einer Laterne lehnte ein junger Türke, eine Zigarette im Mundwinkel; er trug Wanderschuhe, schwarze Jeans mit durchgescheuerten Knien, ein viel zu weites, cremefarbenes Jackett und eine Narbe auf dem Hals, die ihm vom Kehlkopf bis zum Ohrläppchen reichte. Schmiddel packte Zebras Arm, hielt sie fest und zeigte ungeniert auf den Mann, der seine Taschen nach Streichhölzern oder Feuerzeugen abklopfte.
    »Kuck dir den an«, sagte er. »Wow.«
    Ich blieb ebenfalls stehen; mein Blick flog zwischen Schmiddel und dem Türken hin und her. Ich wagte nicht zu fragen, was Schmiddel meinte; den Schmiss, das Zeltjackett, vielleicht sogar die Wanderschuhe. Ich wusste, dass der Mensch nicht nur aus Körper und Kleidung bestand; ich wusste, dass es da noch etwas gab, etwas Unsichtbares, einen Astralleib, wenn man so wollte, den nur sah, wer Augen hatte zu sehen. Ratlos kniff ich die Augen zusammen.
    Jahrelang war es mein Beruf gewesen, dieses Unwägbare zu erkennen, es sichtbar zu machen; seine Kraft, die uns aufwärtszieht, die unsere Träume nährt. Jetzt stellte ich fest, dass meinastrales Sinnesorgan verwirrt war, dass es Gleichgewichtsstörungen zeigte und kein Oben und Unten mehr kannte. Und ich spürte die Panik, die eine alternde Frau packt,

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