Ueberdog
»Ärger.«
»Keine Ahnung«, sagte der Stiefelknecht. »Ich glaub, die sind taubstumm.«
Ich weiß nicht, warum nicht einer von ihnen einfach ein Blatt Papier herausholte. Stattdessen ließ Nico die Hände von der Weste rutschen. Er sah Zebra und Paul an, die jetzt Wellenbewegungen imitierten, dann die Hand unters Kinn legten – ein Taucherzeichen, das ich von einem Seychellen-Urlaub zu kennen glaubte. Es bedeutete, soweit ich mich erinnerte: »Ich habe keine Luft mehr.«
»Na gut«, sagte Nico. »Dann müssen wir zum Hauptbahnhof.«
Er zog sein Handy aus der Jeansjacke, hielt es ans Ohr: »Ja, Orkay hier. Kurz vor Stadthausbrücke. Könnt ihr mal Stefan Bescheid sagen.« Dann sah er uns an, triumphierend, Hände in den Taschen seiner Wildlederhose. Sein gestiefelter Kollege drehte sich derweil zu Betty um und winkte gleich mit resignierter Grimasse ab, als Betty ihn mit einer steilen Hand über dem Scheitel begrüßte. Ich erinnerte mich an das Taucherzeichen für »Hai«.
Der Mann, der uns am Hauptbahnhof auf dem Gleis empfing, war ein graubärtiger Mittfünfziger in Jeans und Tweedjackett. Ein roter Gürtel umgab seinen gemütlichen Bauch. Er sagte kein Wort, sondern nickte nur kurz. Dann wedelte er mit den gespreizten Fingern der rechten Hand in der Luft, deutete mit beiden Zeigefingern vor der Brust ein Herz an. Mit der offenen Rechten zeigte er in die Handfläche der Linken, als wäre etwas darin.
Keiner von uns wagte noch, sich zu bewegen; jedes Kopfkratzen hätte ein Missverständnis ausgelöst. Umso überraschter war ich, dass es nun Betty war, die den Dialog aufnahm. Sie salutierte mit der Hand an der Stirn.
Der Dolmetscher schien zu überlegen. In seine Stirn grub sicheine diagonale Falte. Und dann überschlugen, überstürzten sich Bettys Gesten. Es war ein mächtiges Wringen, Pumpen und Pochen, ein Rudern, Wedeln und Greifen, begleitet von Augenaufreißen und -zukneifen, vom extremen Öffnen und Dehnen ihres breiten, üppigen Mundes.
Der Gebärdendolmetscher versuchte ein paar zaghafte Einwände. Er ließ die abgeknickten Hände vor den Schultern flattern, bohrte den Zeigefinger in die Faust. Erwartungsvoll sah er Betty an, hoffte auf eine Antwort. Dann ließ er die Arme sinken.
»Tut mir leid«, sagte er zu den Kontrolleuren. »Das sind Engländer. Sie hat irgendwas mit ›Boot‹ gesagt oder mit ›Zigarette‹. Aber sonst versteh ich kein Wort.«
In der Abendluft war der Fußweg zurück zur Philharmonie ein Genuss. Für ein paar Takte erfrischten wir uns noch, wie in alten Tagen, unter der Klangdusche am Bahnhofsvorplatz, die Arme im Nacken verschränkt; es erklang Corellis »Folía« in einer wirbelnden, fast dämonischen Interpretation.
Verstohlen sah ich Betty von der Seite an. Sie erschien mir jetzt, an diesem schnellen, rauschhaften Abend, in einem neuen Licht. Sie kaute irgendetwas, sah fast gelangweilt aus – aber plötzlich ahnte ich, dass Betty in Wirklichkeit die Musik war ; dass sie den Wahnsinn der Musik verkörperte , und dass ihre Unbegreiflichkeit, ihre Verschlossenheit daher rührte, dass Musik keine Worte hatte.
Auf der Oberbaumbrücke drehte Chuck sich noch einmal um, reckte die Faust Richtung Bahnhof. Ich erkannte das Signal; auch das war ein Taucherzeichen: »Ich habe hundert Bar in der Flasche.«
16
Ich glaube, dies war der Tag, an dem ich Bettys Besonderheit zum ersten Mal spürte. Bei den allabendlichen Partys blieb sie weiter im Hintergrund, arbeitete lange mit einem Streichholz an ihren zerkauten Nagelbetten. Dann stand sie auf, machte eine schwankende Runde, um die Reste aus den Plastikbechern zu schlürfen, die Paul beim FDP-Frühlingsfest an der Krugkoppelbrücke erobert hatte.
Für eine Viertelstunde oder zwei tauchte sie backstage ab. Schließlich kehrte sie zurück für ihren einsamen, machtvollen Walrosstanz, ihren Brontosauriertanz, den Hals hoch über prähistorische Regenwälder gereckt, während auf dem Podium Paul dem noch immer das Radio reckenden Schmiddel den Rest einer Gabba-Flasche in den halboffenen Mund goss und Chuck im zweiten Rang Zebra in seine Umarmung zwang, mit einer Bewegung, die der Ringer, soviel ich wusste, »Paketgriff« nennt.
Nur Zork lümmelte weiter im Parkett; der Plastikbecher baumelte zwischen seinen lockeren Knien, gehalten von seinen lockeren Händen. Das Transistorradio spielte jetzt »Es war in einer Sommernacht«, und Zork stierte mit blinzelnden Augen Bettys Tanz hinterher, ihrem Stampfen und Schlingern, ihrem
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