Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
Vom Netzwerk:
sage ich Ihnen, nochbevor wir an Land gehen. Haben Sie Ihren Sohn denn hin und wieder gesehen?«
    »O ja, er war bereits mehrmals hier. Er scheint sehr zufrieden zu sein. Er hat eine Kabine für sich allein.«
    »Welch großes Glück«, sagte ich, »mir scheint, er hat immer Glück. Ich war mir sicher, ich müsste ihm die zweite Koje in meiner Kabine anbieten.«
    »Und das hätte Ihnen keine Freude gemacht, weil Sie ihn nicht mögen«, sagte sie unwillig.
    »Wie kommen Sie denn darauf?«
    »Das sagt mir mein Verstand – mein Herz, mein cœur de mère . Wir können dergleichen erraten. Sie halten ihn für egoistisch. Das habe ich gestern Abend bemerkt.«
    »Meine Liebe«, konnte ich rasch genug erwidern, »ich treffe keinerlei allgemeine Urteile über ihn. Er ist nur eines der Phänomene, die ich beobachten werde. Mir scheint, er ist ein sehr netter junger Mann. Da Sie jedoch gestern Abend erwähnen«, fügte ich hinzu, »gebe ich zu, dass er Sie meiner Meinung nach ziemlich gepeinigt und mit Ihrer bangen Erwartung gespielt hat.«
    »Aber letztlich kam er mit, um mir einen Gefallen zu tun«, sagte Mrs. Nettlepoint.
    Ich schwieg eine Weile. »Sind Sie sicher, dass er Ihretwegen mitkam?«
    »Ach oder vielleicht Ihretwegen!«
    Ich bot diesem Seitenhieb, der typisch ist für eine heimtückische Frau, wenn man es wagt, sie vor einem geliebtenQuälgeist in Schutz zu nehmen, Paroli. »Als er mit diesem Mädchen auf den Balkon ging«, wagte ich mich vor, »bat sie ihn vielleicht, ihretwegen mitzukommen.«
    »Das hat sie vielleicht wirklich getan. Aber warum sollte er ihrer Bitte entsprechen – so wie sie sich benimmt?«
    »Das weiß ich noch nicht, aber womöglich werde ich es bald erfahren. Er wird es mir natürlich nicht sagen – weil er mir nie irgendetwas erzählen wird: Er gehört nicht zu denen«, schlussfolgerte ich, »die reden.«
    »Wenn sie ihn nicht gebeten hat, tun Sie ihr durch Ihre Behauptung großes Unrecht«, sagte Mrs. Nettlepoint.
    »Ja, wenn sie ihn nicht gebeten hat. Aber Sie sagen das, um Jasper zu schützen – nicht um sie zu schützen«, lächelte ich.
    »Sie sind kaltblütig – es ist unheimlich!«, rief meine Freundin.
    »Ach, das ist noch gar nichts! Warten Sie ein Weilchen – Sie werden sehen. Auf See bin ich im Allgemeinen furchtbar – ich überschreite die Grenzen. Wenn ich ihr in Gedanken Unrecht getan habe, springe ich über Bord. Man kann Fragen stellen, ohne dabei grobe Worte zu benutzen – aber davon braucht ein Mann einer Frau nichts zu sagen.«
    »Ich weiß nicht, was sich Ihrer Vorstellung nach zwischen den beiden abspielt«, sagte Mrs. Nettlepoint.
    »Nun, nichts anderes als das«, räumte ich ein, »was ander Oberfläche sichtbar wurde. Es sickerte durch, wie es die Tageszeitungen ausdrücken, dass sie alte Freunde sind.«
    »Er hat sie auf irgendeiner kunterbunten Party getroffen – ich habe ihn später danach gefragt. Sie ist keine Person« – meine Gastgeberin war sich dessen sicher –, »die er ernsthaft in Erwägung ziehen könnte.«
    »Das entspricht genau meiner Meinung.«
    »Wissen Sie was, sie beobachten nicht – Sie bilden sich etwas ein«, setzte Mrs. Nettlepoint unseren Disput fort. »Wie erklären Sie sich denn, dass sie Jasper eine Falle stellt und gleichzeitig der Liebe wegen nach Liverpool reist?«
    Oh, auf diese Weise ließ ich mich nicht aufs Glatteis führen! »Ich glaube nicht einen Moment lang, dass sie ihm eine Falle stellt. Ich vermute, dass sie impulsiv aus der Situation heraus handelte. Sie reist nach Liverpool, um zu heiraten. Das ist nicht unbedingt dasselbe wie Liebe, insbesondere aus der Sicht dessen, der zufällig einen persönlichen Eindruck von dem Gentleman gewinnen konnte, mit dem sie verlobt ist.«
    »Nun, es gibt in solch einer Situation gewisse Grenzen der Schicklichkeit, die sogar die Liederlichsten ihres Geschlechts beachten. Offenbar halten Sie sie – ohne Beweise – für fähig, selbst diese zu übertreten.«
    »Ach, Sie machen sich keine Vorstellung von den Grauzonen«, erwiderte ich. »Grenzen der Schicklichkeit undÜbertretungen, meine Liebe – Sie müssen nicht gleich so schwere Geschütze auffahren! Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie, ohne auch nur im Geringsten unanständig zu sein, auf dem Balkon zu Jasper sinngemäß oder sogar wörtlich Folgendes sagte: ›Ich bin schrecklich niedergeschlagen, aber wenn Sie mitkommen, werde ich mich besser fühlen, und das wird auch Ihnen Freude machen.‹«
    »Und warum ist sie so

Weitere Kostenlose Bücher