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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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schrecklich niedergeschlagen?«
    »Das ist sie nicht!«, erwiderte ich lachend.
    Meine arme Freundin wunderte sich. »Was führt sie denn dann im Schilde?«
    »Sie geht mit Ihrem Sohn spazieren.«
    Mrs. Nettlepoint schwieg einen Moment, dann erfreute sie mich mit einer weiteren falschen Schlussfolgerung: »Ach, sie ist grässlich!«
    »Nein, sie ist bezaubernd!«, protestierte ich.
    »Sie meinen, sie ist ›eigenartig‹?«
    »Nun, das ist für mich dasselbe!«
    Was meine Freundin natürlich erneut zu der Behauptung führte, ich sei kaltblütig. Am folgenden Nachmittag unterhielten wir uns weiter, und sie erzählte mir, dass Miss Mavis ihr am Morgen einen langen Besuch abgestattet hatte. Sie sei völlig ahnungslos, das arme Kind, aber ihre Absichten seien gut, und sie halte sich offenkundig selbst für gewissenhaft und anständig. Mrs. Nettlepoint schloss diese Bemerkungen mit dem Seufzer: »Unglückselige Person!«
    »Sie meinen also, man sollte sie regelrecht bedauern?«
    »Nun, ihre Geschichte hört sich trübselig an – sie hat mir einiges über sich erzählt. Sie kam allmählich ins Plaudern, und eine Angelegenheit führte zur nächsten. In ihrer Lage kann ein Mädchen gar nicht anders – sie muss sich einer anderen Frau öffnen.«
    »Hat sie nicht Jasper?«, fragte ich.
    »Er ist keine Frau. Sie scheinen eifersüchtig auf ihn zu sein«, fügte meine Gefährtin hinzu.
    »Ich nehme an, dass er das glaubt – oder über kurz oder lang glauben wird. Welch ein Jammer – welch ein Jammer!« Und ich fragte Mrs. Nettlepoint, ob sie unsere junge Dame, gewagt ausgedrückt, für kokett halte. Sie antwortete mir nicht, fuhr aber mit der Bemerkung fort, dass sie es eigentümlich und interessant finde, auf welche Weise ein Mädchen wie Grace Mavis denen ähnelte, die sie besser kannte, den Mädchen der »Gesellschaft«, und sich gleichzeitig von ihnen unterschied, und dass sich die Unterschiede und Ähnlichkeiten derart vermischten, dass man in manchen Punkten nicht wisse, wie man sie einschätzen solle. Man glaube, sie empfinde wie man selbst, weil man das so bei ihr beobachtet hat, und dann plötzlich, bei einer anderen Gelegenheit – eigentlich fast derselben –, zeige sie sich vollkommen unverständig. Mrs. Nettlepoint meinte des Weiteren – zu solch müßigen Spekulationen verleiten die tatenlosen Stunden auf See –, dass sie sich gefragt habe, ob es besser wäre, eingewöhnliches, sehr gut erzogenes Mädchen zu sein oder ein außergewöhnliches Mädchen ohne jede Erziehung.
    »Also ich bin unter allen Umständen für das außergewöhnliche Mädchen.«
    »Aber wenn man sehr gut erzogen wurde, dann ist man nicht, dann kann man nicht gewöhnlich sein«, sagte Mrs. Nettlepoint und schnupperte an ihrem Riechsalz. »Man ist auf jeden Fall eine Dame.«
    »Und Miss Mavis ist davon fünfzig Meilen weit entfernt – wollen Sie das damit sagen?«
    »Na – Sie haben ihre Mutter gesehen.«
    »Ja, aber ich glaube, Sie würden behaupten, dass bei solchen Leuten die Mutter nicht zählt.«
    »Genau, und das ist schlecht.«
    »Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ist das nicht ziemlich hart? Wenn die Mutter völlig ahnungslos ist, dann sollte man lieber unabhängig von ihr sein, und wenn man es ist, macht es einen schlechten Eindruck.« Ich fügte hinzu, dass Mrs. Mavis vorgestern Abend hinreichend gezählt habe. Sie habe alles Nötige gesagt und getan, während das Mädchen schweigend und respektvoll dagesessen habe. Grace’ Benehmen, zumindest ihrer Mutter gegenüber, sei hochanständig gewesen.
    »Ja, aber sie hat sich ihretwegen ›gewunden‹«, sagte Mrs. Nettlepoint.
    »Ach, wenn Sie es ohnehin wissen, kann ich ja zugeben, dass sie mir genau das gesagt hat.«
    Meine Freundin starrte mich an. » Ihnen das gesagt? Da haben Sie eine ihrer typischen Verhaltensweisen!«
    »Na ja, es waren nur wenige Worte. Wollen Sie mir nicht verraten, ob Sie sie für kokett halten?«
    »Finden Sie es selbst heraus – das ist besser, als eine andere Frau zu fragen, insbesondere wenn Sie vorgeben, Menschen zu studieren.«
    »Ihr Urteil würde meines wahrscheinlich gar nicht beeinflussen. Mich interessiert, welche Bedeutung es für Sie hat.« Diese Äußerung verlangte jedoch nach einer Erklärung, so dass ich gebührend aufrichtig war und zugab, neugierig zu sein, wie weit mütterliche Unmoral ging.
    Zunächst wiederholt sie nur meine Worte. »Mütterliche Unmoral?«
    »Sie gönnen Ihrem Sohn auf dieser Reise jede erdenkliche Zerstreuung, und

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