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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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dachte an die Lieben, die sie zurücklassen würde, ihre verheirateten Töchter, ihre Enkelkinder, doch schlug sie einen eher typisch Bostoner Ton an, als sie mit dem Fächer auf die Back Bay deutete und zu mir sagte: »Wissen Sie, ich werde dort drüben nichts Bezaubernderes als das hier zu sehen bekommen!« Sie begrüßte mich ausgesprochen herzlich, ihr Sohn aber hatte ihr bereits von der Patagonia erzählt, was ihr nicht gefiel, da es die Reise verlängern würde. Sie war auf jedem Schiff ein Häufchen Elend und blieb meist in ihrer Kabine, auch wenn man das Wetter außergewöhnlich schön nennen konnte – als wäre auf See ein Wetter so gut wie das andere.
    »Ach, Ihr Sohn wird Sie also begleiten?«, fragte ich.
    »Da kommt er, er wird Ihnen selbst viel besser Auskunft geben können als ich mit meinen Vermutungen.« Jasper Nettlepoint, in einem weißen Flanellanzug und mit einem großen Fächer in der Hand, stieß im selben Augenblick zu uns. »Nun, mein Lieber, hast du dich entschieden?«, fuhr seine Mutter fort, ohne an Ironie zu sparen. »Er hat noch immer keinen Entschluss gefasst, dabei legen wir um zehn Uhr ab!«
    »Spielt das denn eine Rolle, wenn meine Koffer gepackt sind?«, sagte der junge Mann. »Zurzeit gibt es keinen großen Andrang. Es werden noch Kabinen zu haben sein. Ich warte auf ein Telegramm – das wird den Ausschlag geben. Ich bin gerade zum Club gegangen, um nachzusehen, ob es schon eingetroffen ist – sie schicken es dorthin, weil sie annehmen müssen, dass hier niemand zu Hause ist. Noch war es nicht da, aber ich gehe in zwanzig Minuten wieder hin.«
    »Grundgütiger, wie du dich bei dieser Temperatur abhetzt!«, rief die arme Dame, während mir der Gedanke kam, dass ich vor zehn Minuten vielleicht seine Billardkugeln gehört hatte. Ich war sicher, er liebte Billard.
    »Hetzen? Keineswegs. Ich gehe es ungewöhnlich gemütlich an.«
    »Ach, das glaube ich dir gern!«, erwiderte Mrs. Nettlepoint zusammenhanglos. Ich erahnte eine gewisse Spannung zwischen den beiden und seitens des jungen Mannes einen Mangel an Rücksicht, der vielleicht seiner Selbstsucht entsprang. Seine Mutter war nervös, angespannt, wollte endlich wissen, ob sie auf der Reise mit seiner Gesellschaft rechnen konnte oder gezwungen war, sich allein durchzuschlagen. Aber wie er so dastand, lächelte und langsam seinen Fächer bewegte, kam er mir mitnichten wie jemand vor, dem diese Tatsache allzu schwer zu schaffen machte. Er war von jenem Schlag, um den sich andere zu sorgen pflegen, nicht von dem, der sichum andere sorgt. Er war groß und kräftig, hatte ein attraktives Gesicht, einen wohlgeformten Schädel und dichte Locken. Das Weiß seiner Augen und das seines Zahnschmelzes unter seinem braunen Schnurrbart schimmerten undeutlich im Schein der Lichter der Back Bay. Ich erkannte, dass er sonnengebräunt war, als ob er sich oft im Freien aufhielt, und dass er intelligent, aber auch ein wenig unmenschlich wirkte, allerdings nicht auf verbissene Art. Seine Unmenschlichkeit war heiter und kultiviert. Ich musste ihm erklären, wer ich war, merkte aber selbst dann noch, dass er mich kaum zuzuordnen wusste und ich durch meine Erklärungen für ihn zu keiner wirklichen Persönlichkeit wurde oder zumindest zu keiner, der er Bedeutung beimaß. Ich ahnte, dass ich mich im Gespräch mit ihm manchmal sehr jung und manchmal sehr alt fühlen würde, was an ihm völlig vorbeiginge. Als wollte er unserer Gefährtin beweisen, wie gut er sich selbst überlassen werden könne, erzählte er, dass er einmal erst eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt an Bord eines Schiffes von London nach Bombay gegangen sei.
    »Ja, und deine Mitreisenden waren darüber sicher sehr glücklich!«
    »Ach, meine Mitreisenden!«, erwiderte er, und seine Stimme schien anzudeuten, dass jene eben damit zurechtkommen müssten. Er fragte, ob es keine kalten Getränke im Haus gäbe, keine Limonade, keinen eisgekühlten Sirup; bei solch einem Wetter sollte dergleichen stets zurVerfügung stehen. Als seine Mutter bemerkte, dergleichen stehe sicher im Club zur Verfügung, fuhr er fort: »O ja, ich habe dort schon einiges bekommen, aber ich bin seither den Hügel hinuntergegangen, nicht wahr? Man braucht an beiden Enden des Weges einen Schluck. Soll ich läuten und anfragen?« Er läutete, während Mrs. Nettlepoint bemerkte, dass sie bei der Dienerschaft in einem Haus, dessen Annehmlichkeiten sich in der derzeitigen Situation natürlich auf das Notwendigste beschränkten
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