Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
Vom Netzwerk:
– man benutzte Kerzenstummel und verzichtete auf Luxus –, nicht für den Service garantieren könne. Die Angelegenheit endete damit, dass sie das Zimmer auf der Suche nach Stärkungsmitteln verließ, zusammen mit dem Dienstmädchen, das auf das Läuten hin erschienen war und bei dem Jaspers Ersuchen keinen erkennbaren Geistesblitz ausgelöst hatte.
    Sie blieb eine Zeitlang fort, und ich sprach mit ihrem Sohn, der sich gesellig, aber halbherzig gab und ständig mit dem Fächer in der Hand umherwanderte, als wäre er überaus ungeduldig. Gelegentlich ließ er sich einen Moment lang auf dem Fensterbrett nieder, wobei ich feststellte, dass er tatsächlich richtiggehend gut aussah – ein schöner, braungebrannter, gepflegter junger Athlet. Er unterließ es, mir zu sagen, von welcher besonderen Eventualität seine Entscheidung abhing. Er wies nur beiläufig auf ein erwartetes Telegramm hin, und ich begriff, dass er sich wohl nie dazu herablassen würde, irgendetwas zuerklären. Die Abwesenheit seiner Mutter bezeugte, dass sie daran gewöhnt war, keine Mühen zu scheuen, wenn es darum ging, etwas für ihn zu tun, und ich stellte mir vor, wie sie in einer engen Speisekammer zwischen alten Konservendosen herumkramte, während das teilnahmslose Dienstmädchen die Kerze schräg hielt. Ich weiß nicht, ob er innerlich dasselbe Bild vor Augen hatte, jedenfalls hielt es ihn nicht davon ab, sich unvermittelt zu entschuldigen, nachdem er auf die Uhr geblickt hatte – er müsse wieder zum Club. In einer halben Stunde spätestens sei er zurück. Er ging fort, und ich saß allein da in der dunklen, ausgeräumten, reduzierten Szenerie, in der tiefen Stille, die in den Sommermonaten auf amerikanischen Städten ruht – hin und wieder hörte man aus der Ferne einen Schrei oder ein Platschen im Wasser und auf der langen Brücke gelegentlich das Klingeln der Glöckchen der Kutschen, die langsam durch die stickige Nacht fuhren. Ich war mir des seltsamen, halb lieblichen, halb traurigen Einflusses bewusst, der in unbewohnten Häusern oder solchen, die bald verlassen werden, herrscht, an eingehüllten und beraubten Orten, wo die unbeachteten Sofas und geduldigen abgedeckten Tische (wie die beunruhigten Hunde, denen alles ebenso unheimlich vorkommt) den Vorabend einer Reise zu erkennen scheinen.
    Ein wenig später hörte ich Stimmen, Schritte, Kleiderrascheln, und ich wandte mich um in der Annahme, dass diese Geräusche die Rückkehr Mrs. Nettlepoints undihres Dienstmädchens mit der für ihren Sohn zubereiteten Erfrischung ankündigten. Stattdessen erblickte ich zwei andere weibliche Gestalten, Besucherinnen, die man offenkundig eben erst eingelassen hatte und nun ins Zimmer führte. Sie wurden nicht vorgestellt – die Dienerin kehrte ihnen den Rücken und machte sich auf zu unserer Gastgeberin. Die beiden Frauen kamen unsicher, vorsichtig und ohne einführende Worte näher – ihre Unsicherheit entsprang wohl zum Teil der Dunkelheit in dem Zimmer und zum Teil der experimentellen Natur ihres Besuchs, einer entfesselten Vorstellungskraft oder einem Mangel an Selbstvertrauen. Eine der Damen war kräftig gebaut und die andere schlank, und ich konnte mich augenblicklich vergewissern, dass die eine gesprächig und die andere zurückhaltend war. Des Weiteren konnte man erkennen, dass die eine bejahrt und die andere jung war, wobei ihre faktische Unterschiedlichkeit sie nicht daran hinderte, Mutter und Tochter zu sein. Mrs. Nettlepoint kehrte wenige Minuten später zurück, doch die Zeitspanne war lang genug gewesen, so dass ein für diesen Anlass recht wortreiches Gespräch zwischen den Fremden und dem unbekannten Gentleman, den sie mit Hut und Stock in der Hand angetroffen hatten, im Gange war. Dies war nicht meinem Zutun geschuldet – worauf hätte ich eine Unterhaltung aufbauen sollen? – und noch weniger dem der jüngeren, gleichgültigeren oder weniger mutigen Dame. Sie sprach nur einmal – alsihre Begleiterin mir mitteilte, sie werde am nächsten Tag nach Europa aufbrechen, um dort zu heiraten. An dieser Stelle protestierte sie: »Ach, Mutter!«, in einem Ton, der mir im Dunkeln doppelt merkwürdig vorkam und mich neugierig auf ihr Gesicht machte.
    Die ältere Frau war ohne Umschweife auf dieses Thema und verschiedene andere Dinge zu sprechen gekommen, nachdem ich erklärt hatte, dass ich auf Mrs. Nettlepoint wartete, die zweifellos bald zurückkehren werde.
    »Nun, sie kennt mich nicht – vermutlich hat sie noch nicht einmal von

Weitere Kostenlose Bücher