Überfall nach Ladenschluß
Gina
verabschiedeten, wollte sie nach Hause fahren.“
Der
Italiener stöhnte. „O Gott! Wo ist Gina? Wo soll ich sie suchen? Ihr ist was
passiert. Ich spüre es. Dieser Kerl, dieser Verbrecher hat...“
Er stockte,
als hätte er schon zuviel gesagt.
Lockes
Augen weiteten sich. Wovon redete Ginas Vater? War ein Verbrecher im Spiel? Es
war gar nicht nötig, daß sie Tom anstieß. Er hakte schon nach.
„Verbrecher?
Worum geht’s, Herr Marano?“
Der
Italiener zögerte. Aber dann machten sich Sorge und Verzweiflung in einem
Redeschwall Luft.
„Er war
hier, vorhin. Ein Erpresser. Behauptet, er gehöre zur Mafia. Wollte Schutzgeld
kassieren. Als ich ablehnte, hat er gedroht. Es war so zu verstehen, daß er
Gina was antue. Deswegen bin ich dann gleich...“
Er
erzählte. Tom stellte Fragen. Ein Bild von dem, was geschehen war, setzte sich
zusammen.
Er hat
recht! dachte Locke. Mit dieser Vorgeschichte sieht Ginas Ausbleiben ganz
anders aus. Oh, dieser Lumpenkerl!
Tom fragte
jetzt, wie der Typ aussehe, und Carlo Marano gab sich Mühe mit der
Beschreibung.
Augenblicklich
versteifte Locke den Rücken.
„Dann war
es der Rote“, sagte sie rasch. „Hallo, Herr Marano! Hier spricht Nina Rehm! Ich
glaube, ich kenne den Kerl. Mit und ohne Maske. Bin ihm nämlich heute begegnet,
als er eine Frau überfiel. Er ist mittelgroß und ziemlich stämmig, nicht wahr?
Richtig. Als ich ihn sah, trug er einen hellbraunen Anzug und gelbes Hemd mit
offnem Kragen. Ja?“
Marano
bestätigte auch das.
„Aber der
Rote gehört nicht zur Mafia“, sagte Locke. „Das ist ein Einzelgänger, der
Überfälle verübt. Das mit der Schutz-AG war sicherlich nur ein Trick, um Sie
einzuschüchtern. Dem genügt nicht, was er zusammenraubt. Der kriegt den Hals
nicht voll. Und weil heute nachmittag sein Überfall auf Frau Habeschaden fehl
schlug, probiert er’s jetzt so. Ist zwar schlimm genug. Aber er hat keine
Hintermänner, keine Rückendeckung. Deshalb brauchen Sie keine Vergeltung zu
befürchten, wenn Sie ihn festnehmen lassen, Herr Marano — falls er wieder
auftaucht.“
„Aber er
weiß nicht, daß ich das jetzt weiß“, murmelte Marano. „Und wenn er sich an
meinem Kind vergreift, um seiner Forderung Nachdruck zu geben... Was soll ich
machen? Die Polizei verständigen?“
Locke sah
Tom in die Augen und las darin Einverständnis. Für ihn lag auf der Hand, was
sie jetzt tun würden.
„Wir kommen
zu Ihnen, Herr Marano“, sagte sie. „Das heißt, erstmal suchen wir das
Klenzburger Moos ab. Ist kein Problem mit unseren Feuerstühlen. Vielleicht“,
fügte sie tröstend hinzu, „hat sich Gina unterwegs ausgeruht und ist dabei
eingeschlafen.“
*
Etwa zu
dieser Zeit verließ Gina die Stadt. Ihr Drahtesel bockte, als sie über einen
Stein fuhr. Das Licht der Fahrradlampe warf nur matten Schein auf den Boden.
Gina spürte, wie ihr Gewissen sie zwickte. Sie hatte einen Umweg gemacht, um
noch bei einer Schulfreundin vorbeizuschauen. Sie hatten über Jungs geredet,
nicht gemerkt, wie die Zeit verstrich; und die Nacht war angebrochen.
Daß Gina zu
Hause anrief, verstand sich von selbst. Sie probierte es viermal. Aber ihr
Vater hob nicht ab. Das hieß, er war nicht daheim. Sondern? Etwa schon
unterwegs, um sie zu suchen?
Sofort
verabschiedete sie sich. Sie wußte, wie ihre Eltern fühlten. Ihre Besorgnis war
immer gegenwärtig. Und Gina wollte nicht, daß sie sich ihretwegen ängstigten.
Jetzt
durfte sie keine Minute verlieren. Vor ihr lag das Klenzburger Moos,
mondbeschienen, einsam und still. Die Büsche warfen Schatten. Vereinzelt standen
Bäume. Ein lauer Wind strich über die Wipfel.
Sie
zauderte. Der Radweg entfernte sich von der Straße, führte durch abgeschiedene
Dunkelheit — und der Gedanke, diese Strecke zu fahren, ließ sie frösteln. Aber
es war der kürzere Weg. Er schnitt den Bogen ab, den die Straße machte. Und auf
ihr durfte sie nicht radeln. Er wurde — besonders nach Einbruch der Dunkelheit
— von Halbstarken, Führerschein-Neulingen und anderen verantwortungslosen
Rasern als Rennstrecke benutzt. Sie mißachteten die Geschwindigkeitsbegrenzung.
Für Radfahrer oder gar Fußgänger war diese Strecke lebensgefährlich.
Gina hörte
das Geräusch ihrer Reifen, als sie dem Radweg folgte. Sie kannte ihn in- und
auswendig, kannte beinahe jeden Riß in der Teerdecke, bestimmt aber jede
Biegung — und vor allem die Stelle, wo die Büsche rechts und links Spalier
standen wie Dschungelwände.
Das
Laufrädchen
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