Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
besprechen Entscheidungen mit ihren Kindern und legen ihre Argumente dar. Sie befehlen nicht einfach.
Im Gegenzug erwarten sie, dass ihre Kinder ihre eigenen Positionen vertreten, verhandeln und auch Erwachsene in Autoritätspositionen
hinterfragen. Wenn die Kinder der Mittelschicht schlechte schulische Leistungen nach Hause bringen, stellen die Eltern die
Lehrer infrage. Sie treten für ihre Kinder ein. Just während Lareau ihre Untersuchungen durchführte, verpasste eines der Mädchen
den Sprung in ein Begabtenförderprogramm. Die Mutter sorgte dafür, dass das Mädchen eine Einzelprüfung erhielt, schrieb die
Schule an und erreichte so, dass ihre Tochter schließlich doch noch in das Programm aufgenommen wurde. Eltern der Unterschicht
lassen sich dagegen von Autoritäten einschüchtern. Sie sind ängstlich und halten sich im Hintergrund. Lareau schreibt über
eine Mutter aus einer Arbeiterfamilie:
|95| In einer Sprechstunde mit einer Lehrerin wirkt Mrs. McAllister (die einen High-School-Abschluss hat) kleinlaut. Ihre gesellige
und offenherzige Art, die sie zu Hause zeigt, ist in dieser Situation vollkommen verschwunden. Zusammengekauert sitzt sie
auf einem Stuhl und hat ihre Jacke bis oben hin zugeknöpft. Sie sagt wenig. Als die Lehrerin ihr mitteilt, ihr Sohn Harold
habe seine Hausaufgaben nicht abgegeben, ist sie verwirrt, doch sie sagt nur: »Aber er hat sie zu Hause gemacht.« Sie geht
dem aber nicht weiter nach und setzt sich auch nicht für Harold ein. Ihrer Ansicht nach liegt es allein in der Verantwortung
der Lehrer, sich um die Bildung ihres Sohnes zu kümmern: Das ist deren Aufgabe, nicht ihre.
Lareau beschreibt den Erziehungsstil der Eltern der Mittelschicht als »konzertierte Kultivierung« und den Versuch, »die Talente,
Meinungen und Fähigkeiten des Kindes aktiv zu fördern und zu beurteilen«. Eltern der Unterschicht verfolgen dagegen eine Strategie
des »natürlichen Wachstums«; sie sehen ihre Verantwortung in erster Linie darin, ihre Kinder zu versorgen, doch sie lassen
sie weitgehend allein aufwachsen und sich entwickeln.
Lareau betont, dass keiner dieser beiden Erziehungsstile notwendig besser ist. Die Kinder der Unterschicht waren ihrer Ansicht
nach oft besser erzogen, weniger wehleidig, gingen kreativer mit ihrer Zeit um und handelten mit einem hohen Grad der Selbstbestimmung.
In der Praxis hatte die konzertierte Kultivierung jedoch ganz erhebliche Vorteile. Das Kind der Mittelschicht, dessen Zeit
weitgehend verplant ist, wird ständig wechselnden Erfahrungen ausgesetzt. Es lernt die Zusammenarbeit mit anderen und den
Umgang mit stark strukturierten Situationen. Es erwirbt die Fähigkeit, ungezwungen mit Erwachsenen umzugehen und seinen Standpunkt
zu vertreten. Es entwickelt, wie Lareau es formuliert, ein »Anspruchsdenken«.
Dieses Wort hat natürlich heute einen negativen Beigeschmack. Doch Lareau verwendet den Begriff im besten Sinne: »Sie verhalten
sich so, als hätten sie ein Anrecht darauf, ihre eigenen Vorstellungen zu verfolgen und Interaktionen in institutionellen
Zusammenhängen aktiv in die Hand zu nehmen. In diesen Situationen |96| verhielten sie sich ungezwungen und waren in der Lage, Informationen weiterzugeben und auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu
machen … Für Kinder der Mittelschicht ist es normal, Interaktionen so zu steuern, dass sie ihren Wünschen gerecht werden.«
Sie kennen die Spielregeln. »Schon in der vierten Klasse traten Kinder der Mittelschicht eigenständig für ihre Interessen
ein, um sich Vorteile zu verschaffen. Sie richteten spezifische Fragen an Lehrer und Ärzte, um die Abläufe ihren Bedürfnissen
entsprechend zu gestalten.«
Im Gegensatz dazu zeichneten sich Kinder der Unterschicht mit zunehmendem Alter durch »Distanz, Misstrauen und Hemmungen«
aus. Sie verstanden es nicht, ihre Wünsche durchzusetzen oder ihre Umwelt nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
In einer typischen Szene beschreibt Lareau den Arztbesuch des neunjährigen Alex Williams und seiner Mutter Christina. Beide
Eltern haben studiert und verdienen gut.
»Alex, überleg doch schon mal, was du den Arzt fragen möchtest«, sagt Christina im Auto auf dem Weg zum Arzt. »Du kannst ihn
fragen, was du möchtest. Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Du kannst ihn alles fragen.«
Alex denkt eine Minute lang nach, dann antwortet er: »Ich habe ein paar Pickel unterm Arm, von meinem Deo.« Christina: »Ja?
Von deinem
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