Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 84 Stunden, was einer Siebentagewoche bei einer Tagesarbeitszeit von 12 Stunden
entspricht. David von Drehle schreibt in
Triangle: The Fire That Changed America
: »Während der Hochsaison saßen Arbeiter oft von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, mehr als 100 Stunden pro Woche, auf Hockern
oder kaputten Stühlen über ihren Nähmaschinen oder heißen Bügeleisen. Es hieß, während der Hochsaison surrten die Nähmaschinen
an der Lower East Side pausenlos.«
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Der Erfolg der Juden wird üblicherweise damit erklärt, dass die Einwanderer aus gebildeten Familien stammten. Schließlich
seien die Juden das »Volk des Buches«. An dieser Erklärung mag durchaus etwas Wahres sein, doch es waren nicht nur die Kinder
der Rabbiner, die Jura studierten, sondern auch die der Schneider und Näher. Der Vorteil, den sie bei ihrem beruflichen Aufstieg
hatten, kam nicht etwa aus der intellektuellen Disziplin, die vom Talmudstudium herrührt, sondern vielmehr aus der praktischen
Intelligenz, die man entwickelt, wenn man seinen Vater Schürzen in der Hester Street verkaufen sieht.
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|143| Teil 2
Erbe
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|145| Kapitel 6
Harlan, Kentucky
»Nimm dir deinen Bruder zum Vorbild und stirb wie ein Mann!«
1.
In der südöstlichsten Ecke des US-Bundesstaates Kentucky, einem Gebiet in den Appalachen mit dem Namen Cumberland-Plateau,
liegt eine kleine Ortschaft namens Harlan.
Das Cumberland-Plateau ist eine wilde Gebirgsregion mit Hochebenen, bis zu dreihundert Meter hoch aufragenden Felswänden und
tief eingeschnittenen Tälern, von denen einige gerade genug Platz für eine einspurige Straße und einen Bach bieten. Zur Zeit
der ersten Besiedlung durch die europäischen Einwanderer war das gesamte Plateau von dichtem Urwald überwuchert. Zu Füßen
der Hügel wuchsen riesige Tulpenbäume, deren Stämme einen Durchmesser von bis zu zweieinhalb Metern erreichten. Daneben standen
von wildem Wein umrankte Eichen, Buchen, Ahornbäume, Walnussbäume, Platanen, Birken, Weiden, Zedern, Kiefern und Tannen in
einem der artenreichsten Wälder Nordamerikas. Auf dem Boden dieses Urwaldes lebten Bären, Berglöwen und Klapperschlangen,
in den Wipfeln der Bäume tummelten sich die verschiedensten Hörnchenarten, und unter der Erde lag ein dicker Kohleflöz über
dem anderen.
Harlan County wurde im Jahr 1819 von acht Familien gegründet, die aus dem Norden der britischen Inseln eingewandert waren.
Sie waren im 18. Jahrhundert in Virginia gelandet und auf der Suche nach Land in Richtung Westen und in die Appalachen weitergezogen |146| . Es war kein reicher County. Während des ersten Jahrhunderts war er dünn besiedelt und hatte selten mehr als 10 000 Einwohner.
Die ersten Siedler hielten Schweine, weideten ihre Schafe auf den Hügeln und fristeten auf ihren kleinen Gehöften im Tal ein
ärmliches Dasein. Sie brannten Whiskey in Hinterhofbrennereien und fällten Bäume, die sie im Frühjahr mit dem Hochwasser den
Cumberland River hinunter transportierten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der nächste Bahnhof zwei Tagesreisen mit
dem Pferdefuhrwerk entfernt. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war ein 15 Kilometer langer und steiler Fuhrweg über den
Pine Mountain, der in einigen Abschnitten kaum mehr war als ein schlammiger oder felsiger Pfad. Harlan war ein sonderbarer
Ort und weitgehend abgeschnitten vom Rest der Welt. Dass er schließlich doch eine gewisse Berühmtheit erlangte, verdankt er
zwei Gründerfamilien, den Howards und den Turners, die nicht miteinander auskamen.
Der Patriarch des Howard-Clans war ein gewisser Samuel Howard. Er errichtete des Gerichtsgebäude und das Gefängnis. Sein Gegenspieler
war William Turner, Besitzer einer Taverne und zweier Kramläden. Einmal blies ein Sturm den Zaun der Turners um, und die Kuh
eines Nachbarn streunte auf deren Grundstück. William Turners Enkel »Devil Jim« erschoss das Tier kurzerhand. Der Nachbar
fürchtete sich so vor den Turners, dass er den Fall nicht anzeigte, sondern Harlan County fluchtartig verließ. Ein anderer
Nachbar eröffnete einen Laden, der den Turners Konkurrenz zu machen drohte. Die Turners führten ein ernstes Gespräch mit ihm,
woraufhin der Mann seinen Laden schloss und nach Indiana zog.
Eines Abends spielten Wix Howard und »Little Bob« Turner – die Enkel von Samuel und William – eine Partie Poker. Jeder beschuldigte
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