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Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht

Titel: Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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Angehörigen einer der grimmigsten Kulturen der Ehre besiedelt: den Schotten und Iren aus
     dem südschottischen Tiefland, Nordengland und der Region Ulster in Nordirland.
    Diese abgelegenen und gesetzlosen Grenzregionen, aus denen die Siedler kamen, waren jahrhundertelang umkämpft worden. Die
     Menschen dieser Gegend waren in einer Kultur der Gewalt aufgewachsen. Sie waren Hirten, die dem felsigen Land einen spärlichen
     Lebensunterhalt abtrotzten. Sie reagierten auf ihre unwirtliche und gefährliche Umwelt, indem sie sich zu Clans zusammenschlossen
     und Blutsbande über alles stellten. Nach ihrer Auswanderung in die Neue Welt zogen sie in abgelegene, gesetzlose und karge
     Bergregionen im Landesinneren, wie etwa Harlan, wo sie ihre Kultur der Ehre aus der Alten Welt weiterleben konnten.
    »Für die ersten Siedler war das Hinterland eine gefährliche Umgebung, genau wie es der Norden der britischen Inseln gewesen
     war«, schreibt der Historiker David Hackett Fischer in seinem Buch
Albion’s Seed
:
    Der Süden der schottischen Highlands war umkämpftes Grenzland ohne jede staatliche Ordnung. Die Bewohner dieser Region waren
     in dieser anarchischen Umwelt mehr zu Hause als andere, sie entsprach ihrer Familienstruktur, ihrem Kriegerethos, ihrer Hirtenwirtschaft,
     ihrer Auffassung von Land und Reichtum und ihren Vorstellungen von Arbeit und Macht. Ihre Kultur war so gut an ihre Umwelt
     angepasst, dass sie von anderen ethnischen Gruppierungen kopiert wurde. Die Vertreter des Grenzethos beherrschten dieses »finstere
     und blutige Land«, zum einen aufgrund ihrer |152| schieren Zahl, zum anderen, weil ihre Kultur in dieser rauen und gefährlichen Umwelt das Überleben sicherte. 20
    Das Fortbestehen dieser Kultur der Ehre erklärt, warum die Kriminalität im Südosten der Vereinigten Staaten ein anderes Muster
     aufweist als im Rest des Landes. Hier sind die Mordraten erheblich höher, dafür kommt es seltener zu Eigentumsdelikten und
     Verbrechen wie Raub und Diebstahl. Wie der Soziologe John Shelton Reed schreibt: »Der Süden scheint sich auf Morde zu spezialisieren,
     in denen das Opfer den Täter und die Gründe für die Tat kennt.« Und er fügt hinzu: »Die Statistiken zeigen, dass Südstaatler,
     die Streit und Ehebruch aus dem Weg gehen, so sicher leben wie jeder andere Bürger der Vereinigten Staaten, wenn nicht sicherer.«
     Im Hinterland war das Motiv für Gewalt nicht die persönliche Bereicherung. Es ging vielmehr um persönliche Angelegenheiten
     und um die Ehre.
    Vor vielen Jahren erinnerte sich der Journalist Hodding Carter aus Louisiana an seine Zeit als Geschworener zurück:
    Wir hatten über den Fall eines jähzornigen Mannes zu entscheiden, der neben einer Tankstelle wohnte. Die Tankwarte und verschiedene
     Gammler und Faulenzer, die an der Zapfsäule herumhingen, hatten ihn über Monate zur Zielscheibe ihrer Frotzeleien gemacht,
     obwohl er sie immer wieder gewarnt hatte und obwohl er für seine Unbeherrschtheit bekannt war. Eines Morgens schoss er mit
     seiner zweiläufigen Flinte auf seine Peiniger, tötete |153| einen, verstümmelte einen anderen und verletzte einen dritten … Als die Geschworenen dem ungläubigen Richter das Urteil präsentierten,
     hatte ich als Einziger mit »schuldig« gestimmt. Einer der anderen Geschworenen erklärte: »Er wäre kein echter Mann gewesen,
     wenn er die Kerle nicht erschossen hätte.«
    Nur in einer Kultur der Ehre konnte der jähzornige Nachbar auf den Gedanken verfallen, dass der Gebrauch einer Schusswaffe
     eine angemessene Antwort auf eine Beleidigung sein könnte. Und nur in einer Kultur der Ehre konnte ein Geschworenengericht
     zu dem Schluss kommen, dass ein Mord unter diesen Umständen kein Verbrechen darstellte.
    Mir ist vollkommen klar, dass wir derartigen Verallgemeinerungen über eine Kultur skeptisch gegenüberstehen, und das aus gutem
     Grund. Genau so sehen diskriminierende Vorurteile aus. Außerdem reden wir uns gern ein, dass wir nicht in der Geschichte unserer
     jeweiligen Kultur gefangen sind.
    Doch um zu verstehen, was sich im 19. Jahrhundert in diesen Kleinstädten in Kentucky abspielte,
müssen
wir in die Vergangenheit zurückgehen – und zwar nicht nur eine oder zwei Generationen. Wir müssen 200 oder 300 Jahre zurückgehen,
     uns ein Land auf der anderen Seite des Atlantik ansehen und verstehen, womit die Bewohner einer bestimmten Region ihren Lebensunterhalt
     verdienten. Die Hypothese einer »Kultur der Ehre« besagt, dass es

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