Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
sehr wohl eine Rolle spielt, woher wir kommen, und zwar
nicht nur, wo wir oder unsere Eltern aufgewachsen sind, sondern auch, wo unsere Urgroßeltern, unsere Ur-Urgroßeltern oder
vielleicht sogar unsere Ur-Ur-Urgroßeltern herkamen. Das ist eine Tatsache, um die wir nicht herumkommen. Das ist allerdings
nur der Anfang. Erst ein zweiter Blick verrät, wie tief unser kulturelles Erbe wirklich verwurzelt ist.
3.
Anfang der Neunzigerjahre führten die Psychologen Dov Cohen und Richard Nisbett von der University of Michigan ein Experiment |154| durch, um der Kultur der Ehre auf den Grund zu gehen. Sie wussten, dass die Ereignisse in Orten wie Harlan mit großer Wahrscheinlichkeit
auf ein Verhaltensmuster zurückgingen, das Jahrhunderte zuvor im Grenzgebiet zwischen Schottland und England entstanden war.
Doch in ihrem Experiment wollten sie die Gegenwart erforschen. War es möglich, noch heute Überbleibsel dieser Kultur der Ehre
zu entdecken? Um dies herauszufinden, beschlossen die Psychologen, eine Testgruppe junger Männer zusammenzustellen und diese
gezielt zu beleidigen. »Wir setzten uns zusammen und überlegten, welche Beleidigung einen Achtzehn- bis Zwanzigjährigen ins
Mark treffen würde«, berichtet Cohen. »Wir brauchten nicht lange, um uns für ›Arschloch‹ zu entscheiden.«
Das Experiment verlief wie folgt. Im Keller des Gebäudes der Sozialwissenschaften an der University of Michigan befindet sich
ein langer, schmaler Korridor, der rechts und links von Aktenschränken gesäumt ist. Die jungen Männer wurden einzeln in einen
Kursraum gebeten, wo sie einen Fragebogen ausfüllen sollten. Dann wurden sie aufgefordert, diesen Fragebogen in einem Büro
am anderen Ende des Ganges abzugeben und wieder in den Kursraum zurückzukommen – eine einfache und scheinbar unschuldige akademische
Übung.
Für die Hälfte der Versuchspersonen war es das in der Tat. Sie gehörten der Kontrollgruppe an. Für die andere Hälfte nahm
das Experiment jedoch eine unvorhergesehene Wende. Während sie mit dem Fragebogen in der Hand den Gang entlanggingen, eilte
ein Mann – ein Komplize der Wissenschaftler – an ihnen vorüber und zog die Schublade eines der Aktenschränke auf. Damit wurde
der ohnehin schon schmale Gang vollends unpassierbar. Als sich der junge Mann vorbeizwängen wollte, blickte der Komplize ärgerlich
auf. Er schloss den Schrank mit lautem Knall, rempelte den jungen Mann mit der Schulter an und sagte leise, aber gut hörbar
das entscheidende Wort: »Arschloch«.
Cohen und Nisbett wollten so genau wie möglich messen, was es für einen Studenten bedeutete, so beschimpft zu werden. Nachdem |155| die Testpersonen in den Kursraum zurückgekommen waren, sahen sie sich deren Gesichter an und schätzten, wie viel Ärger diese
zum Ausdruck brachten. Sie gaben den jungen Männern die Hand, um zu sehen, ob ihr Händedruck fester war als üblich. Sie nahmen
vor und nach der Beleidigung Speichelproben, um zu messen, ob die Beleidigung einen Anstieg beim Testosteron und Cortisol
– zweier Hormone, die Erregung und Aggression steuern – bewirkt hatte. Schließlich baten sie die Testpersonen, folgende Geschichte
zu lesen und zu Ende zu schreiben:
Sie waren noch keine 20 Minuten auf der Party, als eine offensichtlich verärgerte Jill ihren Verlobten Steve beiseite nahm.
»Was ist los?«, fragte Steve.
»Dieser Larry. Der weiß doch ganz genau, dass wir verlobt sind, aber er hat mich jetzt schon zwei Mal angebaggert.«
Jill verschwand wieder in der Menge, und Steve nahm sich vor, Larry im Auge zu behalten. Und tatsächlich, keine fünf
Minuten später nahm Larry Jill in die Arme und versuchte, sie zu küssen.
Stellen Sie sich mit größerer Wahrscheinlichkeit vor, dass Steve seinem Gegenspieler eine Abreibung verpasst, wenn Sie gerade
eben beleidigt wurden?
Die Ergebnisse waren eindeutig. Es ergaben sich zwei Gruppen von jungen Männern, die ganz klar unterschiedlich auf die Beleidigung
reagierten. Bei den einen wirkte sich das Wort »Arschloch« auf das Verhalten aus, bei den anderen nicht. Dieser Unterschied
hatte nichts damit zu tun, ob der betreffende junge Mann emotional reif oder unreif, ob er ein Intellektueller oder ein Sportler
war oder ob er einen durchtrainierten Körper hatte oder nicht. Der einzige Unterschied war – Sie ahnen es vielleicht schon
– ihre Herkunftsregion. Die jungen Männer aus dem Norden der Vereinigten
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