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Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht

Titel: Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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Der Tank war leer.
    4.
    »Es ist ein klassischer Fall«, meint Suren Ratwatte, altgedienter Pilot der Emirates Airlines, der seit Jahren an der Erforschung
     der »menschlichen Faktoren« – der Interaktion von Menschen in komplexen System wie Atomkraftwerken und Flugzeugen – beteiligt
     ist. Der lebhafte Mittvierziger stammt aus Sri Lanka und war während seines gesamten Berufslebens Pilot der kommerziellen
     Luftfahrt. Wir sitzen in der Halle des Sheraton Hotels in Manhattan. Er ist gerade nach einem langen Flug aus Dubai mit einem
     Jumbo am Kennedy Airport gelandet. Ratwatte kennt den Avianca-Fall sehr genau und zählt einige der typischen Voraussetzungen
     für einen Unfall auf. Der Nord-Ost-Wind. Die Verspätung. Das kleinere technische Problem mit dem Autopiloten. Die drei Warteschleifen,
     die nicht nur 80 Minuten zusätzliche Flugzeit bedeuteten, sondern auch eine niedrigere Flughöhe, auf der das Flugzeug erheblich
     mehr Treibstoff verbrauchte als in der dünnen Luft über den Wolken.
    »Und es war eine 707, ein älteres Modell und eine echte Herausforderung für einen Piloten«, erklärt Ratwatte. »Es ist ein
     Flugzeug der früheren Generation. Das Ding kostet eine Menge Kraft. Die Steuerung |168| ist nicht hydraulisch verstärkt, sondern über Stahlseile und Gestänge direkt mit der Oberfläche des Flugzeugs verbunden. Als
     Pilot muss man einiges an Kraft mitbringen, um das Ding zu fliegen. Man muss es regelrecht durch die Luft wuchten. Das ist
     so anstrengend, als würden Sie rudern. Das Flugzeug, mit dem ich heute gekommen bin, kann ich mit zwei Fingern steuern. Ich
     habe einen Joystick. Meine Anzeigen sind riesig. In der 707 sind sie so groß wie Kaffeetässchen. Und der Autopilot war ausgefallen.
     Der Kapitän musste neun Instrumente im Auge behalten, von denen jedes so groß war wie ein Kaffeetässchen, mit der einen Hand
     musste er die Geschwindigkeit kontrollieren und mit der anderen das Flugzeug steuern. Er hatte buchstäblich alle Hände voll
     zu tun und konnte sich mit nichts anderem beschäftigen. So geht es einem, wenn man müde wird. Die Entscheidungsfähigkeit nimmt
     ab. Man übersieht Sachen, die man unter normalen Umständen sofort erkennen würde.«
    Auf den Aufnahmen des Flugschreibers, der aus dem Wrack geborgen wurde, kann man hören, wie der Kapitän Caviedes während der
     letzten Stunde des Fluges immer wieder darum bittet, die Anweisungen der Flugsicherung ins Spanische zu übersetzen, so, als
     hätte er nicht mehr die Kraft, Englisch zu verstehen. Neun Mal bittet er um eine Wiederholung. »Sprechen Sie bitte lauter«,
     sagt er kurz vor dem Ende. »Ich höre Sie nicht.« Als die Maschine eine halbe Stunde lang südöstlich des Kennedy Airports kreiste
     und jeder im Cockpit genau wusste, dass der Treibstoff knapp wurde, hätte der Kapitän problemlos um eine Landeerlaubnis im
     nur 100 Kilometer entfernten Philadelphia bitten können. Während des ersten Anflugs meldete sich das Höhenwarnsystem insgesamt
     15 Mal, um dem Kapitän mitzuteilen, dass die Maschine zu niedrig flog, doch der schien dies gar nicht zu registrieren. Als
     er durchstartete, hätte er eine kurze Wende fliegen müssen, doch er unterließ es. Er war erschöpft.
    Und während all dem herrschte im Cockpit bleiernes Schweigen. Neben Caviedes saß der Erste Offizier Mauricio Klotz, doch auf
     dem Flugschreiber ist über lange Zeiträume hinweg nichts zu hören als Rascheln und das Geräusch der Motoren. Klotz war für |169| die Kommunikation mit der Flugsicherung zuständig, das heißt, er spielte in dieser Nacht eine entscheidende Rolle. Doch er
     verhielt sich merkwürdig passiv. Erst vor dem Einflug in die dritte Warteschleife südwestlich des Kennedy Airports teilte
     er der Flugsicherung mit, dass die Maschine nicht mehr genug Treibstoff habe, um einen anderen Flughafen anzufliegen. Danach
     hörte die Mannschaft: »Stand by« und schließlich »Freigabe für den Kennedy Airport«. Ermittler vermuteten später, die Piloten
     seien offenbar davon ausgegangen, die Flugsicherung im Tower habe sie vorgezogen. In Wirklichkeit wurden sie lediglich hinter
     Dutzenden Flugzeugen in die Warteschlange eingereiht. Es war ein entscheidendes Missverständnis, das letztlich das Schicksal
     der Maschine besiegelte. Aber sprachen die Piloten das Thema noch einmal an? Baten sie den Tower um Klärung? Nein. Es sollten
     noch 38 Minuten vergehen, ehe sie den Treibstoff ein weiteres Mal

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