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Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht

Titel: Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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thematisierten.
    5.
    Ratwatte versteht dieses Schweigen im Cockpit der Avianca-Maschine nicht. Und um mir zu erklären, warum, erzählt er mir, was
     ihm am Vormittag auf dem Flug von Dubai nach New York passiert ist. »Im hinteren Teil saß eine Frau. Wir nehmen an, dass sie
     einen Schlaganfall hatte. Sie hatte Krämpfe, hat sich übergeben. Es ging ihr richtig schlecht. Es war eine Dame aus Indien,
     ihre Tochter lebt in den Staaten. Ihr Mann sprach kein Englisch, kein Hindi, nur Punjabi. Niemand konnte sich mit ihm verständigen.
     Er sah aus, als sei er gerade aus einem Dorf im Punjab gekommen, und sie hatten kein Geld dabei. Wir waren über Moskau, als
     es passiert ist, aber ich wusste, dass ich unmöglich in Moskau landen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was die in Moskau mit
     diesen Leuten machen würden. Also habe ich zum Ersten Offizier gesagt: ›Übernimm du. Wir müssen nach Helsinki.‹«
    Ratwatte stand vor dem Problem, dass sie weniger als die halbe Strecke eines langen Fluges zurückgelegt hatten, was bedeutete, |170| dass sie mehr Treibstoff in den Tanks hatten als bei einer normalen Landung üblich. »Wir waren 60 Tonnen über dem maximalen
     Landegewicht. Also musste ich mich entscheiden. Ich hätte den Treibstoff ablassen können, aber den meisten Ländern gefällt
     es nicht, wenn man Treibstoff ablässt. Sie hätten mich auf die Ostsee rausgeschickt, ich hätte eine dreiviertel Stunde gebraucht,
     und die Frau wäre vermutlich gestorben. Also habe ich mich entschieden zu landen. Das war meine Entscheidung.«
    Das bedeutete eine »schwere Landung«. Sie konnten das automatische Landesystem nicht verwenden, da es nicht auf die Steuerung
     derart schwerer Flugzeuge ausgerichtet ist.
    »Also habe ich die Steuerung übernommen«, erzählt er weiter. »Ich musste sichergehen, dass das Flugzeug so weich aufsetzte
     wie möglich, sonst hätte die Struktur der Maschine Schaden nehmen können. Das wäre ein echtes Chaos gewesen. Die Maschine
     verhält sich außerdem anders, wenn sie schwer ist. Wenn Sie durchstarten müssen, bekommen Sie vermutlich nicht mehr genug
     Schub, um an Höhe zu gewinnen.
    Es war ein hartes Stück Arbeit. Wir mussten uns um eine Menge Sachen gleichzeitig kümmern. Weil es ein Langstreckenflug war,
     hatten wir zwei zusätzliche Piloten an Bord. Ich habe sie aufgeweckt, und sie waren an allem beteiligt. Ich war noch nie in
     Helsinki gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wo sich der Flughafen befand oder ob die Landebahn lang genug war. Ich musste eine
     Anflugroute finden, herausfinden, ob ich eine Landeerlaubnis bekam, die Leistungsparameter der Maschine ermitteln und der
     Fluggesellschaft mitteilen, was wir vorhatten. Ich hatte mit drei Leuten gleichzeitig zu tun – mit Dubai, mit den Leuten von
     MedLink, einer Ärzteagentur aus Arizona, und mit den zwei Ärzten, die sich hinten um die Dame gekümmert haben. Das ging 40
     Minuten nonstop so.
    Wir hatten Glück und in Helsinki war gutes Wetter. Ein Anflug bei schlechtem Wetter, plus ein schweres Flugzeug, plus ein
     unbekannter Flughafen, das wäre ein bisschen viel gewesen. Aber weil es Finnland war, ein Land der Ersten Welt, waren sie
     vorbereitet |171| und flexibel. Ich habe zu ihnen gesagt: ›Ich bin schwer, ich möchte gegen den Wind landen.‹ In so einer Situation müssen Sie
     gut bremsen. Aber die haben mir gesagt, kein Problem. Sie haben uns entgegen der normalen Richtung landen lassen. Wir sind
     über die Stadt eingeflogen, was sie normalerweise wegen der Lärmbelästigung nicht machen.«
    Überlegen Sie, was alles von Ratwatte verlangt wurde. Er musste ein guter Pilot sein. Das ist eigentlich gar nicht der Erwähnung
     wert: Er benötigte die technische Erfahrung, um ein schweres Flugzeug zu landen. Aber alles andere, das Ratwatte für eine
     erfolgreiche Notlandung unternehmen musste, hatte nichts mit seinen Fliegerqualitäten im engeren Sinne zu tun.
    Er musste das Risiko eines Schadens am Flugzeug gegen die Gefahr für das Leben der Frau abwägen und nach seiner Entscheidung
     überlegen, was eine Landung in Moskau oder Helsinki für den erkrankten Fluggast bedeutete. Er musste sich so schnell wie möglich
     mit einem unbekannten Flughafen vertraut machen: War er für die Landung eines der größten Flugzeuge der Welt ausgelegt, dessen
     Gewicht 60 Tonnen über dem maximalen Landegewicht lag? Vor allem aber musste er kommunizieren: mit den Passagieren, den Ärzten,
     seinem Co-Piloten, der zweiten Mannschaft,

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