Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
Ausstattung oder institutionellen Reformen zu tun. Der Erfolg dieser Bildungseinrichtung rührt vielmehr daher,
dass sie das kulturelle Erbe ihrer Schüler ernst nimmt.
2.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machte sich eine Gruppe von Reformern in den Vereinigten Staaten an den Aufbau eines öffentlichen
Bildungssystems. Das damalige staatliche Schulsystem war kaum mehr als ein Sammelsurium von Dorfschulen und städtischen Zwergschulen,
die von der jeweiligen Gemeinde unterhalten wurden. Auf dem Land wurden Schulen im Frühjahr und Herbst geschlossen, damit
die Kinder ihren Eltern bei der Aussaat und der Ernte helfen konnten. In der Stadt orientierten sich viele Schulen am langen
und chaotischen Arbeitstag der Eltern. Die Reformer wollten sicherstellen, dass alle Kinder zur Schule gingen und dass die
staatlichen Schulen eine gute Allgemeinbildung boten, das heißt, dass alle Kinder genug Unterricht erhielten, um lesen, schreiben
und rechnen zu lernen und produktive Mitglieder der Gemeinschaft zu werden.
Der Historiker Kenneth Gold weist jedoch darauf hin, dass den frühen Bildungsreformern daneben sehr daran gelegen war, den
Kindern nicht
zu viel
Bildung zuzumuten. Im Jahr 1871 veröffentlichte beispielsweise das Bildungsministerium einen Bericht von Edward Jarvis über
den Zusammenhang von Bildung und Wahnsinn. Nach der Untersuchung von 1 741 Geisteskranken kam Jarvis zu dem Schluss, dass
für 205 dieser Fälle »Überbildung« verantwortlich gewesen sei. »Bildung legt den Grundstein für zahlreiche Ursachen des Wahnsinns«,
schrieb Jarvis. Eine ähnliche Auffassung vertrat auch Horace Mann, Bildungspionier aus Massachusetts |223| , der meinte, wenn die Schule die Kinder zu sehr fordere, habe dies »schädliche Auswirkungen auf Charakter und Gewohnheiten
… Nicht selten wird durch eine Überreizung des Geistes die Gesundheit zerstört.« In Fachzeitschriften brachten Erzieher immer
wieder ihre Sorge zum Ausdruck, sie könnten die Kinder zu sehr fordern oder durch allzu viel Schulbildung ihre angeborenen
Fähigkeiten ersticken.
Gold schreibt, die Reformer
»suchten nach Möglichkeiten, die Zeit, die Kinder mit Schule und Hausaufgaben verbrachten, möglichst zu reduzieren, mit der
Begründung, lange Phasen der Erholung schützten den Geist vor Verletzung. Daher wurde im 19. Jahrhundert der Samstagsunterricht
abgeschafft, und die Ferien wurden verlängert. Lehrer wurden gewarnt, »beim Lernen dürfen die Schüler nicht durch allzu langes
Stillsitzen körperlich ermüdet und durch allzu langes Studieren geistig verwirrt werden«. Ruhepausen ermöglichten dem Geist
zudem die Stärkung der kognitiven und analytischen Fähigkeiten. Einer der Autoren des Massachusetts Teacher schrieb: »Derart
befreit von der Anspannung des Studierens, erwerben Jungen und Mädchen, genau wie Männer und Frauen, die Angewohnheit des
eigenständigen Denkens und Reflektierens, unabhängig von dem, was man ihnen beigebracht hat, und unabhängig von der Autorität
anderer.«
Der Gedanke, dass sich Lernen und Ruhepausen im Gleichgewicht befinden müssen, unterscheidet sich ganz erheblich von der ostasiatischen
Vorstellung des Lernens. Doch die ostasiatische Weltsicht hat ihren Ursprung natürlich im Reisfeld. Im Delta des Perlflusses
bringen die Reisbauer zwei bis drei Ernten pro Jahr ein. Das Land liegt nur für kurze Zeit brach. Da mit dem Wasser immer
neue Nährstoffe auf die Felder gelangen, wird das Land sogar umso fruchtbarer, je öfter es bestellt wird.
In der Landwirtschaft des Westens ist das Gegenteil der Fall: Wenn ein Weizen- oder Maisfeld nicht alle zwei bis drei Jahre
brachliegt, wird der Boden ausgelaugt. Im Winter werden die Felder ebenfalls nicht bestellt. Im bäuerlichen Jahreslauf folgen
auf die Anstrengungen im Frühjahr und Herbst die gemächlicheren |224| Phasen im Sommer und Winter. Diese Logik übertrugen die Bildungsreformer auf die Kultivierung des menschlichen Geistes. Durch
Vergleich und Übertragung gelangen wir zu neuen Vorstellungen, wir bewegen uns vom Bekannten zum Unbekannten, und was diese
Reformer kannten, war der Rhythmus der Landwirtschaft. Ein Geist muss wie ein Feld bestellt werden. Aber nicht zu sehr, sonst
wird er ausgelaugt. Und was war das Gegenmittel? Lange Sommerferien – dieses eigentümliche US-amerikanische Erbe, das bis
heute weitreichende Auswirkungen auf das Lernverhalten der Kinder hat.
3.
Die Sommerferien spielen in den
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