Ueberflieger
sie mitbrachten, würden sie bestenfalls einige Wochen über die Runden kommen. Wie so viele Einwanderer in diesen Jahren waren sie einfach auf gut Glück gesprungen.
Louis und Regina fanden eine kleine Wohnung an der Eldridge Street im Manhattaner Stadtteil Lower East Side. Die Miete betrug acht Dollar pro Monat. Louis ging auf die Straße und suchte nach Arbeit. Er sah Krämer und Obstverkäufer, die Gehsteige waren mit Schubkarren verstopft. Der Lärm, das Treiben, die Energie stellten alles in den Schatten, was er aus der Alten Welt kannte. Zuerst fühlte er sich eingeschüchtert, dann angespornt. Er besuchte seine Schwester in ihrem Fischgeschäft in der Ludlow Street und überredete sie, ihm auf Kredit eine Lieferung Heringe zu überlassen. Er stellte seine zwei Fässer Fisch auf dem Gehsteig auf, sprang zwischen ihnen auf und ab und rief auf Deutsch:
Zum Braten,
zum Backen,
zum Kochen,
auch zum Essen,
Hering zu jeder Mahlzeit,
Hering für alle Klassen!
Nach einer Woche hatte er acht Dollar verdient. In der zweiten Woche kam er auf dreizehn Dollar. Das waren beachtliche Summen. Doch Louis und Regina waren nicht überzeugt, ob ihre Zukunft tatsächlich im Straßenverkauf von Heringen lag. Also versuchte Louis sein Glück als fliegender Händler mit Schubkarre. |127| Zuerst verkaufte er Handtücher und Tischdecken, allerdings ohne allzu großen Erfolg. Also sattelte er auf Schreibwaren um, dann auf Bananen und schließlich auf Socken. Aber war der Straßenverkauf wirklich zukunftsträchtig? Als das zweite Kind zur Welt kam, wurde es ernst. Nun hatte Louis vier Münder zu füttern.
Nachdem er fünf Tage lang die Straßen der Lower East Side auf- und abgegangen war und schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, fand er schließlich die Antwort. Er saß auf einer Kiste und aß die Stullen, die Regina ihm geschmiert hatte.
Bekleidung
. An jeder Ecke eröffneten neue Geschäfte, die Anzüge, Kleider, Overalls, Hemden, Röcke, Blusen, und Hosen verkauften. Für jemanden, der aus einer Welt kam, in der Kleider zu Hause genäht oder von einem Schneider nach Maß angefertigt wurden, war dies eine Offenbarung.
»Was mich am meisten wunderte, war nicht so sehr die schiere Menge der Bekleidung, obwohl das an sich schon ein Wunder war«, erinnerte sich Borgenicht Jahre später, als er bereits ein wohlhabender Fabrikant von Frauen- und Kinderbekleidung war, »sondern die Tatsache, dass sich in Amerika selbst arme Menschen die eintönige und zeitaufwändige Näharbeit sparen und einfach in ein Geschäft gehen und die Kleider kaufen konnten, die sie brauchten.
Das
war der Bereich, in den ich gehen wollte.«
Borgenicht holte ein kleines Notizbuch hervor. Wo immer er hinging, notierte er, was die Menschen trugen und was verkauft wurde – Herrenbekleidung, Damenbekleidung, Kinderbekleidung. Er wollte etwas Neues finden, das die Menschen anziehen würde und das bisher nicht verkauft wurde. Vier weitere Tage lang ging er durch die Straßen. Am Abend des vierten Tages sah er auf dem Heimweg ein paar Mädchen, die auf der Straße Himmel und Hölle spielten. Eines der Mädchen trug eine kleine, bestickte Schürze über ihrem Rock, die vorn tief ausgeschnitten und hinten mit einer Schleife zusammengebunden war. Ihm fiel auf, dass er in all den Tagen, in denen er unermüdlich das Angebot der Kleidergeschäfte der Lower East Side begutachtet hatte, nirgends eine solche Schürze gesehen hatte.
|128| Er kam nach Hause und erzählte Regina davon. Sie hatte eine alte Nähmaschine, die sie bei ihrer Ankunft in Amerika gekauft hatten. Am nächsten Morgen ging er in einen Kurzwarenladen an der Hester Street und kaufte 100 Meter Gingan und 50 Meter weißes Leinen. Er kam in die kleine Wohnung und legte die Ware auf den Tisch. Regina schnitt die Stoffe in verschiedenen Größen zu, bis sie 40 Schürzen hatte. Dann nähte sie. Als sie um Mitternacht zu Bett ging, setzte sich Louis an die Nähmaschine. Bei Tagesanbruch stand sie auf, schnitt die Knopflöcher aus, umbördelte sie und nähte die Knöpfe an. Gegen zehn Uhr morgens waren die Schürzen fertig. Louis warf sie sich über den Arm und ging hinaus auf die Hester Street.
»Kinderschürzen! Schürzen für Mädchen! Bunte zehn Cent, weiße fünfzehn Cent! Mädchenschürzen!«
Um ein Uhr hatte er alle verkauft.
»Mama, wir haben unser Geschäft!«, rief er Regina zu, nachdem er den ganzen Weg nach Hause gerannt war.
Er packte sie um die Taille und wirbelte sie im Kreis
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