Ueberflieger
Verantwortung für sich selbst zu übernehmen |124| , wenn man das wollte. Friedman gehörte damals dem »wirtschaftlichen Prekariat« an, wie man das heute nennen würde. Er kam aus der Bronx, und weder sein Vater noch seine Mutter hatten die Universität besucht. Trotzdem war es keine Schwierigkeit für ihn, eine gute Ausbildung zu bekommen. Er besuchte die Schule zu einer Zeit, als die staatlichen Schulen von New York von aller Welt beneidet wurden. Seine erste Wahl, das City College, wäre kostenlos gewesen, und seine zweite Wahl, die University of Michigan, kostete ihn lediglich 450 Dollar. Die Aufnahmeverfahren waren offenbar derart informell, dass er zuerst in die eine, dann in die andere Universität hineinschnuppern konnte.
Und wie kam er nach Michigan? Er trampte mit dem Verdienst aus seinem Ferienjob in der Tasche nach Ann Arbor, und gleich nach seiner Ankunft fand er eine Reihe gut bezahlter Jobs, mit denen er sein Studium finanzierte, denn »die Fabriken haben händeringend Leute gesucht«. Natürlich taten sie das: Sie mussten die Nachfrage der geburtenstarken Jahrgänge unmittelbar vor der demografischen Delle der Dreißigerjahre und der neuen Generation der Baby Boomer unmittelbar danach befriedigen. Dieses Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten, das für den Erfolg so wichtig ist, kommt nicht nur aus uns selbst heraus oder von unseren Eltern. Es kommt auch aus der Zeit, in der wir leben, und den spezifischen Möglichkeiten, die uns ein bestimmter historischer Moment bietet. Für einen angehenden Anwalt war es geradezu ideal, Anfang der Dreißigerjahre zur Welt gekommen zu sein, genau wie für einen Softwareentwickler das Jahr 1955 und für einen Industriellen das Jahr 1835 das perfekte Geburtsjahr war.
Heute hat Mort Janklow ein Büro hoch über der Park Avenue. In den Räumen hängen Werke von modernen Künstlern wie Jean Dubuffet und Anselm Kiefer. Er kann köstliche Geschichten erzählen. »Ich bin immer Risiken eingegangen«, erzählt er. »Als ich mit der Kabelgesellschaft angefangen habe, habe ich Geschäfte gemacht, die mich in den Bankrott gestürzt hätten, wenn sie |125| schiefgegangen wären. Aber ich hatte immer die Zuversicht, dass ich es schon irgendwie hinbekomme.«
Mort Janklow besuchte die staatlichen New Yorker Schulen, als diese auf ihrem Zenit standen. Maurice Janklow besuchte dieselben Schulen, als sie überfüllt waren. Mort Janklow studierte an der Columbia University, da die Kinder aus der demografischen Delle sich ihre Universitäten aussuchen konnten. Maurice Janklow studierte in Brooklyn, weil es im Jahr 1919 für den Sohn einer Einwandererfamilie keine andere Möglichkeit gab. Mort Janklow verkaufte seine Kabelgesellschaft für zig Millionen Dollar. Maurice Janklow kassierte für Kaufverträge eine Gebühr von 25 Dollar. Aus der Geschichte der Janklows können wir lernen, dass der kometenhafte Aufstieg des Joe Flom nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt möglich gewesen wäre. Selbst die begabtesten Anwälte mit dem besten Familienhintergrund können den Problemen ihrer Generation nicht entgehen.
»Meine Mutter war bis fünf oder sechs Monate vor ihrem Tod geistig noch hellwach«, erinnert sich Mort Janklow. »Dann ist sie in ein Delirium gefallen und hat über Dinge gesprochen, die sie nie erwähnt hatte. Sie hat über Freunde geweint, die 1918 an der Grippe gestorben sind. Diese Generation, die Generation meiner Eltern, hat eine Menge durchgemacht. Sie haben diese Epidemie überlebt, die vielleicht 10 Prozent der Weltbevölkerung das Leben gekostet hat. Panik auf der Straße. Freunde sterben. Der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, der Zweite Weltkrieg. Sie hatten kaum Möglichkeiten. Es waren schwere Zeiten. In einer anderen Welt hätte mein Vater mehr Erfolg gehabt.«
Lektion 3: Die Textilindustrie und sinnvolle Arbeit
8.
Im Jahr 1889 bestiegen Louis und Regina Borgenicht in Hamburg einen Dampfer nach Amerika. Louis kam aus Galizien im damals |126| von Russland besetzten Polen, Regina aus einem Dorf in Ungarn. Die beiden hatten wenige Jahre zuvor geheiratet, hatten ein kleines Kind, und Regina war zum zweiten Mal schwanger. Während der dreizehntägigen Überfahrt schliefen sie auf Strohmatratzen über dem Maschinenraum und klammerten sich an das hölzerne Bettgestell, während das Schiff durch die Wellen schlingerte. In New York kannten sie einen einzigen Menschen: Louis Borgenichts Schwester Sallie, die zehn Jahre zuvor ausgewandert war. Mit dem Geld, das
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