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Ueberflieger

Titel: Ueberflieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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|232| ein Vorstellungsgespräch mit mir geführt, und was sie gesagt hat, das hat alles so heftig geklungen, dass ich gedacht habe, ich komme ins Gefängnis. Ich habe fast geweint. Und sie hat gesagt, wenn du nicht willst, musst du dich nicht in die Liste eintragen. Aber meine Mama war dabei, also habe ich mich eingetragen.«
    Damit veränderte sich das Leben des Mädchens von Grund auf. Wenn Sie die folgenden Absätze lesen, sollten Sie sich gelegentlich daran erinnern, dass Marita erst zwölf Jahre alt ist.
    »Ich stehe um viertel vor sechs auf, putze mir die Zähne und dusche mich«, berichtet sie. »Wenn ich spät dran bin, frühstücke ich in der Schule. Meine Mutter treibt mich meistens an, weil ich herumtrödele. An der Bushaltestelle treffe ich mich mit meinen Freunden Diana und Steven, und wir nehmen den Einserbus.«
    Dass der Wecker um viertel vor sechs klingelt, ist für Schüler der KIPP-Academy nichts Ungewöhnliches, zumal viele lange Strecken mit dem Bus oder der U-Bahn zurücklegen müssen. Bei meinem Besuch fragt Levin die 70 Kinder in einem Musikkurs, zur welcher Uhrzeit sie morgens aufstehen. Eine Handvoll Schüler kann bis nach 6 Uhr liegen bleiben. Drei Viertel geben an, vor 6 Uhr aufzustehen, etwa die Hälfte sogar vor halb 6. Einer von Maritas Klassenkameraden, ein Junge namens José, erzählt, er stehe jeden Morgen zwischen 3 und 4 Uhr auf, mache seine Hausaufgaben fertig und lege sich dann noch ein Weilchen schlafen.
    Marita erzählt weiter:
    Um 5 Uhr nachmittags ist die Schule aus, und wenn ich nicht bummele, dann komme ich gegen halb 6 nach Hause. Ich unterhalte mich ganz kurz mit meiner Mutter und fange dann mit den Hausaufgaben an. Wenn es nicht so viel ist, brauche ich zwei oder drei Stunden, dann bin ich gegen 9 Uhr fertig. Wenn ich Aufsätze schreiben muss, wird es schon mal 10 oder halb 11.
Manchmal sagt mir meine Mama, ich soll zum Abendessen eine Pause machen. So um 8 Uhr esse ich was zu Abend, eine halbe Stunde oder so, und dann setze ich mich wieder an meine Hausaufgaben. Danach will meine Mama meistens hören, wie mein Schultag so war, aber ich muss |233| es schnell machen, denn ich muss um 11 im Bett sein. Also mache ich alles fertig und gehe ins Bett. Ich erzähle ihr von meinem Tag, was los war und so, und wenn ich fertig bin, ist sie schon am Einschlafen. Dann ist es so gegen viertel 12. Dann schlafe ich, und am nächsten Morgen geht’s wieder los. Wir schlafen im selben Zimmer. Aber es ist groß und lässt sich abteilen, und jede hat ihr Bett auf einer anderen Seite. Meine Mama und ich, wir verstehen uns sehr gut.
    Sie berichtet in der sachlichen Art eines Kindes, das keine Ahnung hat, wie außergewöhnlich seine Situation ist. Sie hat das Arbeitspensum einer Stationsärztin oder einer Rechtsanwältin, die in ihrer Kanzlei Partnerin werden will. Es fehlen nur die dunklen Ringe unter den Augen und der Becher Kaffee, doch dazu ist sie noch zu jung.
    »Manchmal komme ich nicht rechtzeitig ins Bett«, erzählt sie weiter. »Ich lege mich so um 12 Uhr schlafen, und am Nachmittag erwischt es mich dann. Manchmal schlafe ich im Unterricht ein. Aber ich muss aufwachen, um alles mitzukriegen. Einmal bin ich im Unterricht eingeschlafen, und mein Lehrer hat mich gesehen und gesagt: ›Kann ich nach der Stunde mit dir sprechen?‹ Und er hat mich gefragt: ›Warum bist du im Unterricht eingeschlafen?‹, und ich hab ihm gesagt, ich bin spät ins Bett. Und er so: ›Du musst früher ins Bett.‹«
    6.
    Maritas Tagesablauf ist für eine Zwölfjährige äußerst untypisch. Er sieht auch nicht unbedingt so aus, wie man ihn sich für ein Mädchen in ihrem Alter wünschen würde. Wir sind der Auffassung, dass Kinder Zeit zum Spielen, Träumen und Schlafen benötigen. Marita dagegen trägt Verantwortung. Sie muss dieselbe schwierige Entscheidung treffen, der sich auch die koreanischen Piloten stellen mussten. Um in ihrem Beruf erfolgreich zu sein, mussten diese einen Teil ihrer Identität aufgeben, da die für die koreanische Kultur typische Hochachtung für höhergestellte Personen |234| im Cockpit eines Flugzeugs keinen Platz hat. Marita muss dieselbe Entscheidung treffen, denn auch ihr kulturelles Erbe passt nicht zu ihren Lebensumständen – nicht, solange Familien der Ober und Mittelschicht die Wochenenden und Ferien nutzen, um ihre Kinder zu fördern. Die Gemeinschaft, in der sie lebt, gibt ihr nicht das, was sie benötigt. Daher muss sie für die KIPP-Academy ihre Abende, ihre

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