Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Botschaften und Blogs machen das Erleben unmittelbar und tragen es in unsere Wohnstuben hinein. Katastrophen vom anderen Ende der Welt rücken uns plötzlich ganz nah, es gibt einen »Brennpunkt« oder ein »Heute Spezial« dazu im Fernsehen, wir können das Leid in Großaufnahme betrachten. Was ist der Zweck dieser Berichterstattung? Müssen wir wirklich wissen, ob in einer Bergregion im Kaukasus ein Bus mit 25 Insassen abgestürzt ist und nur fünf überlebt haben? Ändert es etwas an der Situation der bedauernswerten Opfer oder an unserer eigenen? Das Einzige, was wirklich dadurch tangiert wird, ist unser Sicherheitsgefühl. Wir gruseln uns, sind schockiert und betroffen, überweisen vielleicht bei einer großen Katastrophe rasch eine Geldspende – und haken das Ganze schnellstmöglich ab.
Aber können wir diese Eindrücke wirklich wegzappen? Aus den Augen, aus dem Sinn? Oder setzen sich diese Bilder und Berichte nicht doch irgendwo in unserem Kopf, unserem Inneren fest und zementieren so den Eindruck der eigenen Machtlosigkeit? Wir alle haben die schrecklichen Bilder der Terroranschläge am 11. September 2001 noch lebhaft im Kopf. Bilder von den Zwillingstürmen des World Trade Center, die durch Passagiermaschinen zum Einsturz gebracht wurden. Diese Szenen haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Seitdem sei in der Welt nichts mehr, wie es war, hörte man in der Folgezeit immer wieder. Und in der Tat hat sich die Welt verändert: Die Bilder der zusammenbrechenden Zwillingstürme wurden zum Symbol für die Fragilität unserer Welt, in diesem Fall auch des westlich-kapitalistischen Systems. Eine diffuse Bedrohung war plötzlich fassbar geworden, man benannte eine »Achse des Bösen«, zwei Kriege folgten als mittelbare Reaktion auf die Anschläge. Das vermeintlich stabile Machtgefüge – die USA und damit der Westen und sein demokratisches Weltverständnis – geriet mit den Türmen ins Wanken.
In unserem Gehirn haben die Bilder aus New York genauso Spuren hinterlassen wie die der verheerenden Tsunami-Welle am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004 oder des Atomunglücks in Japan, dessen Folgen für Menschen und Umwelt bis heute nicht absehbar sind. Sie arbeiten in uns weiter, nähren das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, der Überforderung und schüren die Furcht vor einem persönlichen Schicksalsschlag, der einen vollends aus der Bahn werfen würde. Ein nagendes Gefühl setzt sich in uns fest, eine solche persönliche Katastrophe nicht bewältigen zu können. Sozusagen der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde, der Stein zu viel, der das Lebensgebäude, das man mit letzter Kraftanstrengung aufrechterhalten hatte, zusammenbrechen ließe. Denn die innere Beschäftigung mit den Schreckensmeldungen, wenn auch nur auf »Sparflamme«, führt zu einem mehr oder weniger bewusst ablaufenden Abwägen: zwischen dem, was die Katastrophe an Gefühlen auslöst, und den vermuteten eigenen Fähigkeiten, diese zu bewältigen. Da diese Fähigkeiten tendenziell unterschätzt werden, führt die mediale Dauerberieselung letztlich dazu, dass die eigene Angst potenziert wird. Es entsteht ein Gefühl ständiger Bedrohung, ganz so als gäbe es tatsächlich ein deutlich erhöhtes Risiko in unserem Leben. Unser Sicherheits- und Selbstkompetenzgefühl wird mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen.
Man kann diese fatale Spirale des Zeitphänomens Angst auch mit einem Ansatz aus der Gestaltpsychologie erklären. Ich habe ja bereits erwähnt, dass der Konsum von Katastrophenmeldungen auf zwei Ebenen abläuft: das äußerliche »Abhaken« und das innerliche »Weitergären«. In der Gestaltpsychologie gibt es die Termini »geschlossene« und »offene Gestalt«. Unter einer »geschlossenen Gestalt« versteht man das, was wir als Arbeitsablauf oder Problem beendet und gelöst haben und daher hinter uns lassen können. Dagegen beschäftigt uns eine »offene Gestalt« – also Probleme und Arbeitsabläufe, die wir nicht beendet haben – innerlich immer weiter, sie macht uns unruhig, auch wenn wir nicht bewusst daran denken.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein nicht abgeklärter körperlicher Schmerz in der Herzgegend, bei dem man nicht weiß, ob es sich um ein Rücken- oder tatsächlich ein Herzproblem handelt, lässt uns doch keine Ruhe, bis wir uns der Sache annehmen und zum Arzt gehen. Etwas Ähnliches geschieht, wenn wir uns ständig Horrorbildern und Katastrophenmeldungen aussetzen: Wenn die
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